Vor fast 150 Jahren wurde in Russland die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Diese Reform prägt das russische Militär bis heute. Ein Vortrag des Historikers Werner Benecke.
Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Russland im Jahr 1874 war Teil von größeren gesellschaftlichen Reformen. Deren Ziel war es, das Land grundsätzlich zu modernisieren. Die Wehrpflicht galt zwar für alle jungen Männer, aber nicht jeder musste gleich lang dienen. Für wie lange man eingezogen wurde, hing von zwei Faktoren ab: vom Familienstand und von der Bildung, die man bis dahin bekommen hatte.
"Die Zeitgenossen spotteten nicht zu Unrecht darüber, dass der Kriegsminister offensichtlich sein Amt mit dem Bildungsminister vertauscht hatte. Denn das, was er da vorlegte, war ja ein Konzept zur Volksbildung."
Der Historiker Werner Benecke beschreibt in seinem Vortrag, wie das System funktionierte. Die Länge des Wehrdiensts war gestaffelt: Wer nie eine Schule besucht hatte, musste sechs Jahre aktiv dienen.
Kürzere Wehrpflicht für Gebildete
Für die, die einen Grund- oder Mittelschulabschluss hatten, wurde diese Zeit jeweils um zwei Jahre verkürzt. Wer schließlich eine Universität besucht hatte, der musste nur noch sechs Monate lang zur Armee gehen.
"Schon aus der Konzeption ging eine wichtige Botschaft hervor: Der Wehrdienst ist nichts für die gebildeten Schichten."
Hinter dieser Staffelung stand die Idee, dass die zivile Gesellschaft großen Bedarf an gut ausgebildeten Menschen hatte. Deswegen sollten sie nicht allzu lange in der Armee verweilen. Doch dieses Konzept hatte eine Kehrseite: Nun fehlten die besser gebildeten jungen Männer in der Armee. Die Folge, so Benecke: Das Militär blieb in der russischen Gesellschaft ein Fremdkörper, das nicht hoch angesehen war. Die Rekruten bezeichnete man als "treues Vieh".
"Russland war ein Land, in dem das Militär ein Fremdkörper geblieben war. Der Kriegsdienst galt als eine nach Kräften zu vermeidende Last. In der Mitte der Gesellschaft war der Militärdienst nicht angekommen."
Dennoch hielt man sich für militärisch nahezu unbesiegbar, weil man eine so große Bevölkerung hatte. Das sei auch heute noch eine weitverbreitete Überzeugung, so Benecke. "An Leuten fehlt es uns nicht", sei ein bekannter Ausspruch. Historisch lässt sich das allerdings nicht belegen. Seine zahlenmäßige Überlegenheit hat Russland in militärischen Auseinandersetzungen nicht immer genutzt.
Werner Benecke ist Professor für Kultur und Geschichte Mittel- und Osteuropas an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sein Vortrag hat den Titel "Die Allgemeine Wehrpflicht in Russland. Historische Wurzeln militärischer Zustände im Jahr 2022". Er hat ihn am 9. Januar 2023 in Frankfurt (Oder) gehalten im Rahmen des Osteuropa Kolloquiums der Europa-Universität Viadrina.