In vielen Ländern galt das Poliovirus als ausgerottet, in Europa beispielsweise seit 2002. Abwasserproben aus den USA, Großbritannien und Israel zeigen jedoch, dass der Erreger dort wieder seit Monaten kursiert. Das zeigt, dass es sich um ein globales Geschehen handelt.
Der Fall eines Mannes in Rockland County im Bundesstaat New York in den USA hat viele aufgeschreckt. Der Mann erkrankte an Poliomyelitis, die im Alltagsgebrauch oft kurz als Polio oder Kinderlähmung bezeichnet wird.
Das überraschende daran: Die USA gelten seit den 1970er-Jahren als poliofrei. Der Erkrankte wurde nach zwei Wochen aus der Reha-Klinik entlassen. Nach wie vor hat er Lähmungen in den Beinen.
"Wenn das Virus dann auf Gruppen mit niedriger Polio-Impfquote trifft, kommt es auch zu Symptomen bis hin zu Lähmungen."
Wer geimpft ist, erkrankt in der Regel nicht, kann sich aber mit dem Poliovirus infizieren und auch andere damit anstecken.
Bei Ungeimpften können bei rund jedem 200. Lähmungen durch die Polioerkrankung auftreten. In den USA ist die Polio-Impfquote generell recht hoch. In Rockland County liegt sie allerdings nur bei 60 Prozent. Das hängt damit zusammen, dass dort eine religiöse Gemeinde lebt, die relativ impf-skeptisch ist.
Virus kursiert seit April
Die Behörden haben das Abwasser in Rockland County und den benachbarten Gemeinden untersucht, sowie ältere Abwasserproben, die zur Corona-Überwachung genutzt wurden. Dabei stellten sie fest, dass das Virus schon seit April in hunderten von Menschen aus dieser Gegend zirkuliert.
Poliovirus auch im Abwasser von London und in Israel nachgewiesen
Bei dem Poliovirus, das im Abwasser gefunden und sequenziert wurde, handelt es sich um einen abgeschwächten Erreger und nicht den Wildtypus.
Proben, die dem Abwasser aus London und in Israel entnommen wurden, zeigen, dass die dort gefunden Viren eng verwandt sind mit dem Virus das in den USA entdeckt wurde.
In London hatten sechs Kinder bereits im Frühjahr eine Infektion, eines von ihnen entwickelte Lähmungen. "Das Virus ist immer nur einen Langstreckenflug entfernt", sagt der Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth.
"Das Virus ist immer nur einen Langstreckenflug entfernt."
Während in Industriestaaten inzwischen ein Totimpfstoff verwendet wird, kommt im globalen Süden vor allem die Schluckimpfung mit lebenden, aber abgeschwächten, Viren zum Einsatz. Beide Varianten haben Vor- und Nachteile:
- Der Lebendimpfstoff ist viel einfacher zu verabreichen, da nur eine Dosis notwendig ist, statt drei im Abstand von einigen Monaten. Außerdem verhindert die Impfung nicht nur die Erkrankung mit Symptomen, sondern auch das Weiterreichen des Virus. Nachteil: In sehr seltenen Fällen kann es passieren, dass das abgeschwächte Virus der Impfung zurückmutiert. Es kann dann auch wieder Lähmungen auslösen. Jedoch etwa zehnmal seltener als das Wildvirus.
- Der Totimpfstoff dagegen zeigt in der Regel weniger Nebenwirkungen, hier gibt es auch kein lebendes Virus, das mutieren könnte. Nachteil: Geimpfte Menschen können sich infizieren und das Virus auch verbreiten. Eine ganze Bevölkerung ist also nur bei einer sehr hohen Impfquote geschützt, während beim Lebendvirus die Verbreitung des Virus deutlich stärker eingeschränkt ist.
WHO will mittelfristig auch im globalen Süden Totimpfstoff verimpfen
2021 gab es weltweit 698 Fälle von Impfpolio. Das Wildvirus selbst hat nur noch sechs Erkrankungen verursacht. Dennoch wird die Schluckimpfung im globalen Süden weiter verwendet, weil sie schnellere Resultate erzielt.
Mittelfristig will die Weltgesundheitsorganisation jedoch weltweit auf den Totimpfstoff umstellen.
Die Zahlen steigen wieder
Im Frühjahr sah es noch so aus, als ob das Poliovirus nach jahrzehntelangen Impfprogrammen völlig ausgerottet werden könnte.
Inzwischen steigen die Zahlen allerdings wieder. Das liegt zum einen daran, dass die Impfprogramme durch die Corona-Pandemie gebremst wurden. Zum anderen haben die Taliban Impfungen lange mit radikalen Mitteln unterbunden. Beispielsweise wurde noch im Februar ein achtköpfiges Impfteam ermordet.
Inzwischen sind Impfungen wieder möglich. Aber die Fälle in Afrika, in den USA, Großbritannien und Israel zeigen, dass dieses Virus so ansteckend ist, dass jede Infektionskette unterbrochen werden muss. Das gehe nur mit Impfungen, die möglichst jedes Kind erreichen, fasst der Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth die Situation zusammen.