Der Erholung und Genesung sollen die Verschickungsheime dienen, in die Kinder von den 1950er bis in die 1980er-Jahre gesendet werden. Oft erfahren die Kinder dort großes Leid, das ihr gesamtes weiteres Leben prägt.
Wenn Kinder und Jugendliche in den 1960er-Jahren erkranken oder nach einer längeren Krankheit Erholung brauchen oder wenn sie unter anderen Schwierigkeiten leiden, werden sie nicht selten in Erholungsheime geschickt, sogenannte Kinderkurheime.
In diesen Anstalten sollen sie vermeintlich unter ärztlicher Aufsicht und in der Obhut von Pflegern und Krankenschwestern gepflegt und wieder gesund werden.
Verschickungskinder – traumatisiert statt erholt
Aber was die Kinder in dieser "Kinderverschickung" erleben, traumatisiert sie und lässt sie ein Leben lang nicht mehr los. Manche, die Heimweh haben, werden - nach Erfahrungsberichten - mit Medikamenten ruhiggestellt. Andere, die das wohl oft nicht genießbare Essen nicht bei sich behalten können, zwangsernährt. Auch Isolationsstrafen sind kein Einzelfall.
"1980 ist ja erst beschlossen worden, dass Kinder in unserem Land ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Die ganze Gesellschaft ist seit den Nachkriegsjahren einen weiten Weg gegangen."
Der Gang zur Toilette wird mancherorts nur einmal pro Tag erlaubt, genauso selten gibt es in vielen Verschickungsheimen für die Kinder etwas zu trinken. Die Schutzbefohlenen sind in vielen Fällen körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. Sie fühlen sich von der Welt und vor allem ihren Eltern verlassen. Sie sind Opfer einer empathielosen "schwarzen Pädagogik".
Täterinnen und Täter oft antihumanistisch erzogen
Die Täterinnen und Täter werden sich vermutlich keiner Schuld bewusst gewesen sein, als sie die ihnen Anvertrauten derart misshandelt haben. Denn vielen von ihnen wurden in den 1930er-Jahren nach den Maximen einer antihumanistischen Erziehung erzogen, die rassistisch und elitär war.
Ihre Eltern sollten nach einem der meist verkauften Ratgeber jener Jahre - "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von Bestseller-Autorin Johanna Haarer - auf keinen Fall eine emotionale Beziehung zu ihren Kindern aufbauen.
Keine emotionale Bindung zum Kind
Von Anfang an sollten sie nur beim Füttern, Windelwechseln, Anziehen oder Baden Zeit mit ihnen verbringen. Ansonsten sollten sie den Mädchen einimpfen, dass sie Mütter blonder, blauäugiger Soldaten sein müssten, während die Jungen zu "Bannerträger der Zukunft" herangezogen werden sollten.
Die Folgen dieser "NS-Pädagogik" wirkt bis heute nach, denn viele der Opfer benötigen psychologische Hilfe, um mit dem Erlebten fertig zu werden. Viele von ihnen sind in Selbsthilfegruppen* organisiert, die in Nordrhein-Westfalen zumindest nun auch finanzielle Unterstützung vom Land bekommen.
Ihr hört in Eine Stunde History:
- Die Journalistin Lena Gilhaus berichtet über ihre Recherche, die zur Aufdeckung des Skandals in den Kinderverschickungsheimen geführt haben.
- Ute Thyen arbeitet am Universitätsklinikum Lübeck und beschreibt Ursachen und Folgen der empathielosen "schwarzen Pädagogik" in den Heimen.
- Detlef Lichtrauter ist Opfer der Gewaltanwendung in den Verschickungsheimen und hat die "Initiative Verschickungskinder" ins Leben gerufen.
- Auf den SPD-Abgeordneten im NRW-Landtag, Dennis Maelzer, geht die Initiative zurück, den Opfern gesetzlich geregelte Hilfe zukommen zu lassen.
- Deutschlandfunk-Nova-Geschichtsexperte Matthias von Hellfeld schildert die Pädagogik im NS-Deutschland, durch die die Täterinnen und Täter während der NS-Zeit sozialisiert wurden.
- Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Wiebke Lehnhoff erzählt die Geschichte von Christine Herring, die heute in den USA lebt und 1969 traumatische Erfahrungen in einem Berliner Krankenhaus machen musste.
*Mehr Infos für Betroffene gibt es hier: Regional- und Selbsthilfegruppen - Verschickungsheime
Hinweis zum Headerfoto: Ein Symbolbild - Turnen im Kindersanatorium Bad Muskau. Es gibt wenige Aufnahmen aus Kinderkurheimen wie diese, die Ende der 1980er-Jahre entstanden ist.