Wenn Freiheit zu Spaltung führt
Am 6. Januar 2021 kam es in Washington, D.C. zum Sturm auf das Kapitol. Viele Menschen in den USA und im Rest der Welt waren schockiert. Wie sich diese Ausschreitung angekündigt hat, erklärt Politikwissenschaftler Torben Lütjen in seinem Vortrag.
Fast alle Bereiche der Gesellschaft in den USA sind tief gespalten. Die historischen Wurzeln dieser Spaltung liegen tief. Der Politikwissenschaftler Torben Lütjen erforscht seit Jahren, wie sich die politischen Lager in den USA immer weiter voneinander entfernen. Dass es zum Sturm auf das Kapitol kommen konnte, hat ihn nicht überrascht.
Von der Gemeinschaft zum Individualismus
In seinem Vortrag geht er bis in die 1950er-Jahre zurück. Schon damals sind die Gegensätze entstanden, die die USA heute prägen: Rassismus versus Liberalismus, Stadt versus Land, Religiosität versus Säkularismus – das war nicht immer so. Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Konsensbildung gehörten ursprünglich einmal zu den herausstechenden Merkmalen der US-amerikanischen Demokratie. Warum hat sich das geändert?
Freiheiten, die ausgrenzen
Im Laufe des 20. Jahrhunderts sind unsere individuellen Freiheiten immer größer geworden – in den USA und auch in Europa. Statt diese Freiheiten zu nutzen, um aufeinander zuzugehen, haben sich viele Menschen stärker abgeschottet.
Die meisten Menschen schließen sich lieber mit denen zusammen, die die gleichen Meinungen vertreten wie sie selbst und scheuen die direkte Auseinandersetzung mit den anderen. Die These von Torben Lütjen: Die Polarisierung, die wir heute sehen, ist auch ein Ergebnis der Freiheiten, die wir im vergangenen Jahrhundert neu gewonnen haben.
"Die Freiheit, die wir dazu gewonnen haben, wird von den Menschen nicht dazu eingesetzt, offener zu werden, sondern dazu, sich homogene Lebenswelten zu bauen."
Der Blick in die USA könnte ein Blick in unsere eigene Zukunft hier in Europa sein, glaubt der Politikwissenschaftler. Er hält es durchaus für möglich, dass sich die Gräben bei uns ähnlich vertiefen.
"Ist die Regierung legitim? Ist die Opposition legitim? Waren die Wahlen legitim? Das sind Dinge, über die in den USA heute gestritten wird. Wenn es nicht mehr um Inhalte geht, sondern um Fragen der Legitimität, dann ist das ein Fall von bösartiger Polarisierung."
Torben Lütjens Vortrag hat den Titel "Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert." Er hat ihn am 4. Mai 2021 online gehalten im Rahmen der Vorlesungsreihe "Krisen bewältigen" der Polytechnischen Gesellschaft Frankfurt am Main.