Die Türkei steuert auf eine noch autoritärere Zukunft zu. Die CHP gewinnt durch die Proteste möglicherweise neue Anhänger dazu, sagt Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey. Doch wie weit wird Erdoğan gehen, um die Bewegung zu stoppen?

Die Proteste gegen die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu dauern an: Den sechsten Abend in Folge sind Menschen in vielen Teilen der Türkei auf die Straße gegangen. Während Präsident Recep Tayyip Erdoğan von einer "Bewegung der Gewalt" spricht, geht die Polizei teils mit harter Hand gegen Demonstrierende vor. Rund 1100 Menschen sind in den vergangenen Tagen verhaftet worden.

Gewalt oder demokratisches Recht?

Erdogan wirft der Oppositionspartei CHP vor, die Proteste anzustacheln. Gülistan Gülbay, Politikwissenschaftlerin an der FU Berlin, zieht Parallelen zwischen den aktuellen Demonstrationen und den großen Protesten nach der Räumung des Gezi-Parks 2013. Damals hätten die Proteste zunächst klein begonnen, sich dann aber schnell ausgeweitet, insbesondere weil die Staatsgewalt sehr hart reagiert habe. Die äußerst harte Reaktion der Sicherheitskräfte habe der Bewegung damals erheblichen Zulauf verschafft.

"Diese brutale Reaktion der Sicherheitskräfte hat die Bewegung zu dem Zeitpunkt damals sehr stark vergrößert."
Politikwissenschaftlerin Gülistan Gülbay zu den Gezi-Protesten 2013

Auch die aktuellen Proteste wiesen eine solche Dynamik auf. Es werde stark davon abhängen, ob die Staatsgewalt jetzt mit aller Härte durchgreift oder nicht. Derzeit scheine es, als sei es noch nicht zu größeren Ausschreitungen gekommen und alles sei noch unter Kontrolle, so Gülbay. Dennoch gebe es immer wieder kleinere Ausschreitungen, vor allem Übergriffe der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern.

Eine Dimension staatlicher Gewalt, wie sie bei den Gezi-Protesten zu beobachten gewesen sei, sei bislang zwar noch nicht erreicht worden – doch eine entsprechende Entwicklung sei nicht ausgeschlossen. Die Ereignisse der vergangenen drei Tage, das Verhalten der Sicherheitskräfte sowie die öffentlichen Erklärungen der Regierung deuteten darauf hin, dass eine weitere Eskalation durchaus möglich sei.

Angst oder Resignation?

Viele Demonstrierende gehen nicht bis zum Äußersten, sondern ziehen sich zurück. Doch liegt das an Angst oder Resignation? Laut Gülbay müsse man bedenken, dass die meisten Protestierenden keine Eskalation wollten. Provokationen seien zwar nicht ausgeschlossen, aber die Mehrheit sei nicht daran interessiert, dass die Lage außer Kontrolle gerate.

"Die große Mehrheit der Protestierenden ist nicht daran interessiert, irgendwelche Ausschreitungen zu provozieren."
Politikwissenschaftlerin Gülistan Gülbay

Allerdings sieht sie in den aktuellen Entwicklungen klare autokratische Tendenzen. Schon in der Vergangenheit habe die Regierung in demokratische Prozesse eingegriffen, etwa durch die Absetzung kurdischer Bürgermeister. Nun versuche Erdogan, die Opposition zu spalten und unliebsame Kandidaten auszuschalten.

Gülbay erklärt weiter, dass autoritäre Systeme oft versuchten, Proteste als gewalttätig darzustellen, um sie zu delegitimieren. Der Staat nutze Diffamierungstaktiken, um die Opposition in Misskredit zu bringen.

İmamoğlu: Ein gestärkter Oppositionskandidat?

Die Verhaftung von İmamoğlu könnte Erdogan jedoch mehr schaden als nutzen. Laut Gülbay habe die CHP durch die Proteste ihre Basis gestärkt und möglicherweise weitere Anhänger dazugewonnen. Würden jetzt Wahlen stattfinden, würde ihrer Einschätzung nach die CHP mit großer Wahrscheinlichkeit mit einer breiten Mehrheit unterstützt werden.

"Die CHP hat mit diesen Demonstrationen auch gleichzeitig ihr Klientel konsolidiert und möglicherweise noch viele weitere Anhänger gewonnen."
Politikwissenschaftlerin Gülistan Gülbay

Ob die Proteste anhalten oder verebben, hängt stark vom weiteren Vorgehen der Regierung ab. Noch sind sie nicht eskaliert, doch die kommenden Tage könnten entscheidend sein.

Shownotes
Nach der Festnahme İmamoğlus
Türkei: Wie lange halten die Proteste an?
vom 25. März 2025
Moderatorin: 
Jenny Gärtner
Moderator: 
Thilo Jahn
Gesprächspartner: 
Gülistan Gülbay, Politikwissenschaftlerin