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Erst waren es einzelne Proteste, inzwischen demonstrieren Hunderttausende in der Türkei gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Lilya ist eine von ihnen. Obwohl schon Freunde von ihr festgenommen wurden, ist sie entschlossen weiterzumachen.

Nachdem der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu am 19. März 2025 gemeinsam mit rund hundert Personen aus seinem Umfeld festgenommen wurde, gab es zunächst nur vereinzelte Proteste in der Türkei. Als Bürgermeister wurde er inzwischen zwar abgesetzt, aber die sozialdemokratische Partei CHP hat İmamoğlu wenige Tage nach seiner Festnahme als Präsidentschaftskandidaten festgelegt.

Rund hundert Menschen aus dem Umfeld İmamoğlus in Haft

Neben seinem Pressesprecher und seinem Wahlkampfleiter wurde nun auch Ekrem İmamoğlus Anwalt festgenommen. Dem ehemaligen Istanbuler Bürgermeister wird unter anderem die Führung einer kriminellen Organisation, so wie Bestechung und die Unterstützung der als terroristisch geltenden PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und deren neuer Organisationsform KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) vorgeworfen.

Inzwischen gehen hunderttausende Menschen in der Türkei auf die Straße, um gegen die Festnahme des politischen Kontrahenten von Recep Tayyip Erdoğan zu demonstrieren. Vor allem in den großen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir.

Die Menschen tun dies, obwohl Protestverbote verhängt wurden. Immer wieder kommt es zu Verhaftungen. Seit Protestbeginn sollen es fast 1.900 Festgenommene sein, sagt die türkische Regierung.

“Ich bin sehr traurig, weil meine Freunde verhaftet werden. Ich denke, dass auch ich jeden Moment verhaftet werden könnte. Ich fühle mich nicht wohl dabei, aber trotzdem hat keiner von uns Angst."
Lilya, hat an Studierendenprotesten in der Türkei teilgenommen

Kurz vor seiner Verhaftung hat die Universität Istanbul İmamoğlus Hochschulabschluss aufgrund vermeintlicher Fehler für ungültig erklärt. In der Türkei ist ein Uni-Abschluss eine der Voraussetzungen, um für das Amt des Präsidenten zu kandidieren.

“Ich gehe ein Risiko ein, das ist mir klar, aber wir Studierenden haben nun alle Mut gefasst.”
Lilya, Journalistik-Studentin in Istanbul, die an Protesten teilgenommen hat

An der Universität Istanbul studiert auch Lilya. Sie hat mit Freund*innen an Protesten gegen die Verhaftung İmamoğlus teilgenommen. Einige ihrer Freunde wurden daraufhin verhaftet und auch Lilya befürchtet, dass ihr das passieren könnte. Dennoch möchte sie sich weiterhin für die Freilassung des CHP-Präsidentschaftskandidaten einsetzen.

Lilya hofft, dass mehr Menschen aus der türkischen Gesellschaft sich den Protesten anschließen, um letztendlich zu erreichen, dass die AKP-Regierung unter Erdoğan dem Druck nicht mehr standhalten kann und zurücktritt. Obwohl sie fest entschlossen ist, ist Lilya nicht sicher, ob die Protestbewegung dieses Ziel erreichen kann.

"Als Studenten haben wir sowohl mit der Regierung als auch mit der Opposition zu kämpfen."
Lilya, nimmt an den Protesten in der Türkei teil

Lilya kritisiert, dass die Oppositionsparteien das Aufbegehren des Volkes und die Proteste nicht ausreichend unterstützten. Sie sagt, dass die Oppositionsparteien nur so stark opponieren könnten, wie die Regierung es zulasse. Sie wünscht sich, dass auch das anders wird.

Korrespondent: Erdoğan hat Gen Z unterschätzt

Benjamin Weber berichtet für Deutschlandfunk Nova aus Istanbul. Er hat manche der Proteste vor Ort verfolgt und fühlt sich an die sogenannten Gezi-Proteste im Jahr 2013 erinnert. Er stellt aber einen deutlichen Unterschied dazu fest.

"Dass die Wahlen quasi im Endeffekt gar nicht mehr so richtig was wert sind, wenn der größte Kandidat ausgeschaltet ist. Das finde ich dann doch ganz schön krass."
Benjamin Weber, Korrespondent in Istanbul

Während die Gezi-Proteste mehrheitlich von linken und studentischen Organisationen gestützt und initiiert wurden, sieht das Bild heute ein wenig anders aus. Neben Studierenden sind bei den Protesten unter anderem auch türkisch-nationalistische Jugendliche, Menschen im mittleren Alter und bei manchen Demos auch ältere Menschen zu sehen, sagt unser Korrespondent Benjamin Weber.

"Ich finde es zurzeit schwer vorstellbar, dass die Proteste etwas ändern und Erdoğan darüber stolpert."
Benjamin Weber, Korrespondent in Istanbul

Inzwischen forderten die Protestierenden nicht nur die Freilassung Imamoğlus, sondern den Rücktritt der Regierung. Die Proteste haben sich zu einer Anti-Regierungs-Bewegung ausgeweitet, sagt Benjamin Weber.

Er sagt, die Anfang-20-Jährigen in der Türkei kennen keinen anderen Präsidenten als Recep Tayyip Erdoğan und müssten dabei zusehen, wie es wirtschaftlich mit dem Land bergab geht, die Inflation stetig zunimmt und es beruflich keine Perspektiven für sie gibt. Dass sie an den Protesten teilnehmen, findet er nachvollziehbar.

Korrespondent: Schwer vorstellbar, dass sich etwas ändert

Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich lange Zeit nicht zu den Protesten geäußert, sagt Benjamin Weber. Inzwischen bezeichnet er die Demonstrationen als Gewaltbewegung. Die Regierung versuche das Aufbegehren bei sich bietenden Gelegenheiten zu kriminalisieren und es mit Gewalt und Terror zu assoziieren, sagt Benjamin Weber.

"Ich glaube schon, dass sie diese Gen Z unterschätzt haben. Dass die plötzlich so entschlossen überall auf den Straßen sind."
Benjamin Weber, Korrespondent in Istanbul

Bemerkenswert findet er allerdings auch, dass die Regierung trotz der Protestverbote, die Demos weitgehend laufen lässt. Ganz ohne Gewalt läuft es dabei nicht ab: Unser Korrespondent spricht sowohl von Fällen, in denen Polizeigewalt zu beobachten war, als auch Gewalt, die von Protestierenden ausging.

Dass die türkische Regierung möglicherweise die Reaktion auf die Verhaftung Ekrem İmamoğlus unterschätzt haben könnte, zeige sich darin, dass sie nun rigoroser vorgeht, meint Benjamin Weber. Zum Beispiel, indem vier oppositionelle Fernsehsender, die über die Proteste berichtet haben, für zehn Tage geschlossen wurden und nun auch der Anwalt Imamoğlus verhaftet wurde.

Wie viel die Proteste bewirken können

Die Macht dieser Proteste lasse sich daran ablesen, dass Istanbul nicht unter eine Zwangsverwaltung gestellt wurde. Das habe sich die Regierung aufgrund der Demonstrationen nicht getraut, sagt unser Korrespondent.

Ob sich künftig etwas ändert, bleibt für ihn aber fraglich: Selbst mit den aktuellen Massenprotesten, an denen hunderttausende Türken teilnehmen, kann sich unser Korrespondent Benjamin Weber momentan nur schwer vorstellen, dass dadurch eine politische Veränderung in der Türkei herbeigeführt werden kann. Entscheidend sei dafür, wie lange die Proteste noch laufen werden und wie breit die Bevölkerung sie mitträgt.

Ihr habt Anregungen, Wünsche, Themenideen? Dann schreibt uns an Info@deutschlandfunknova.de

Shownotes
Proteste in der Türkei
Hat Erdoğan seine Gegner unterschätzt?
vom 28. März 2025
Moderation: 
Rahel Klein
Gesprächspartnerin: 
Lilya, protestiert gegen Erdoğan
Gesprächspartner: 
Benjamin Weber, Deutschlandfunk-Nova-Korrespondent in Istanbul