Der sogenannte Islamische Staat ist militärisch geschwächt, aber es gibt ihn weiterhin, vor allem in Afrika hat er an Unterstützung gewonnen. Die Anti-IS-Koalition trifft sich jetzt, um darüber zu sprechen, wie es weitergehen soll. Kristin Helberg, Journalistin und Nahost-Expertin findet, dass es viel zu tun gibt, wenn man verhindern will, dass der IS zurückkehrt oder eine ähnliche Terrororganisation entsteht.
Der IS ist militärisch stark geschwächt, sein Kalifat, dass er in Syrien und im Irak errichtet hatte, ist zerstört, "und die Führungsriege um Abu Bakr al-Baghdadi, so hieß der Chef damals, die sind alle tot. Aber das heißt nicht, dass der IS ideologisch besiegt ist", sagt Kristin Helberg.
Zurzeit gebe es zwar keine Organisation mit einer funktionierenden Struktur und Hierarchie – denn so etwas brauche Zeit, um wieder aufgebaut zu werden. Aber an die 10.000 Kämpfer sind nach den Kämpfen in den vergangenen Jahren nicht in kurdische Gefangenschaft geraten und haben die Militäraktion dieser Anti-IS-Koalition überlebt. Diese Kämpfer sind in den Untergrund gegangen – berichtet Kristin Helberg – und verüben weiterhin Angriffe auf die lokale Bevölkerung.
"Es gibt etwa 100 Übergriffe im Irak und in Syrien pro Monat."
Außerdem existiere nach wie vor eine globale Organisation des IS. "Es gibt eine zersplitterte Organisation, etwa 20 Ableger und Netzwerke weltweit, die meisten davon in Afrika südlich der Sahara", sagt die Journalistin. In den vergangenen Jahren sei der IS dort ziemlich stark geworden.
"Wir dürfen auch nicht vergessen: Die Terrorangriffe in Europa – denken wir an Paris, Nizza, Wien, Dresden – das braucht keine Organisation, das waren Einzeltäter", so Kristin Helberg, allerdings radikalisieren sich die Täter meistens im Netz. Für ihre Taten bräuchten sie keine Befehle sondern lediglich "Inspiration". Und diese Voraussetzung sei nach wie vor gegeben.
Militärische Einsätze auch gegen Zivilisten
Geschwächt ist der sogenannte IS deswegen, weil die Anti-IS-Koalition – darunter große Militärmächte, wie etwa die USA, aber auch arabische Staaten – hart durchgegriffen hatte. "Das war zum Teil ein sehr rücksichtsloses Vorgehen, vor allem, als es darum ging, die großen Städte dieses Kalifats noch zurückzuerobern", sagt Kristin Helberg. 2017 etwa gab es schwere Kämpfe um die syrische Stadt Rakka (unser Titelbild), der früheren Hauptstadt des Kalifats. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass dabei auch rund 11.000 Zivilisten getötet worden sind.
Kurdische Verbündete fühlen sich im Stich gelassen
Bei ihrem Treffen müssen die Vertreter der Anti-IS-Koalition nun entscheiden, wie es weitergeht. Vor allem die Kurden, die als wichtigste lokale Verbündete gegen IS-Truppen am Boden gekämpft hatten, fühlen sich im Stich gelassen. Denn tausende IS-Kämpfer sind noch in kurdischer Gefangenschaft in Nordostsyrien. "Dort gibt es ja so eine Quasi-Autonomie der Kurden. Und die fühlen sich jetzt zurecht im Stich gelassen mit dem Problem", sagt Kristin Helberg.
Viele Angehörige von ehemaligen IS-Kämpfern leben dort in großen Camps, zum Beispiel in Al-Hol, einem Flüchtlingslager, in dem katastrophale Zustände herrschen. Die kurdischen Sicherheitskräfte seien mit den Problemen überfordert. Außerdem, berichtet Kristin Helberg, fangen überzeugte IS-Anhänger inzwischen wieder an, zu rekrutieren und Kinder zu indoktrinieren oder eine Scharia-Polizei zu organisieren.
"Darunter sind auch ein paar hundert Europäer. Es bräuchte auf jeden Fall mehr Engagement, auch von Europa, um die kurdischen Sicherheitskräfte zu unterstützen – mindestens bei der Versorgung dieser IS-Anhänger und ihrer Angehörigen."
Zuletzt habe sich die Anti-IS-Koalition vor zwei Jahren getroffen – vor Corona. Kristin Helberg sagt, in der Ankündigung des Treffens höre sich das alles sehr positiv an, "aber wir müssen mal abwarten, wie viel Verantwortung diese Anti-IS-Koalition jetzt bereit ist zu übernehmen. Das war eben bisher eher wenig." Vor allem europäische Staaten seien gefordert, denn schließlich befinden sich unter den IS-Anhängern auch viele Europäer.
"Der Anti-Terror-Kampf ist eben nicht nur mit militärischen Mitteln zu gewinnen, sondern man muss sich auch um die sozialen Bedingungen kümmern und die im Blick haben."
Die Journalistin ist der Meinung, dass sich die Koalition um vieles kümmern müsste. Etwa um die Aufarbeitung von Verbrechen und von Unrecht. Es sei wichtig, für die Menschen vor Ort ein Gefühl von Sicherheit zu schaffen. Es brauche gesellschaftliche Aussöhnung und auch De-Radikalisierung in den ehemaligen IS-Gebieten. Und nicht zuletzt fehle es bisher an wirtschaftlichen Perspektiven und Entwicklung.
"In vielen Gebieten im Nahen Osten ist die Lage ja so frustrierend und hoffnungslos, dass es wieder der perfekte Nährboden für Extremisten ist. Dann ist es ja nur eine Frage der Zeit, bis der IS oder irgendeine andere Terrorgruppe kommt und rekrutiert und sagt: Hier bei uns seid ihr wer", sagt Kristin Helberg.