Manchmal ist genau das spannend, über das geschwiegen wird. Diese eine Erinnerungslücke in der Vergangenheit unserer Eltern oder Großeltern zum Beispiel. Was dahinter stecken kann, sind Traumata. Und die können auch vererbt werden – an uns.
Content Note: In diesem Beitrag werden neben Traumata auch Gewaltverbrechen thematisiert. Solltest du dich dabei nicht wohlfühlen, dann skippe lieber diesen Artikel und die Folge oder hol dir eine andere Person dazu.
Jedes Jahr am 20. November wurden die schwarzen Rahmen aufs Klavier gestellt. Darin waren die Bilder der verstorbenen Verwandten. An diesem Tag im Jahr 1945 wurden sie auf ihrem Bauernhof von bewaffneten ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern überfallen, in einen Keller gebracht und dort erschossen. Eine ganze Familie wurde an diesem Tag umgebracht. Es gab nur einen Überlebenden: Lillis Opa. Weil er sich tot stellte.
"Mein Großvater hat auch Schüsse abbekommen, hat sich aber tot gestellt."
Der 20. November ist auch der Geburtstag von Lillis Mutter. Sie ist die jüngste von vier Kindern, die Lillis Großvater später mit seiner zweiten Frau bekommen hat.
Trauma 1945
Was ihrem Großvater und seiner Familie 1945 zugestoßen ist, hat Lilli nicht direkt von ihrem Opa erfahren. Sie hat ihre Großeltern nie kennengelernt. Sie sind gestorben, lange bevor Lilli und ihre Schwester geboren wurden.
In ihrer Familie wurde auch nie offen über die Geschichte ihres Opas gesprochen, sagt sie. Aber dann ist sie zu Hause bei ihren Eltern auf ein kleines grünes Buch gestoßen, das ihr Großvater geschrieben hat. Anfang der Sechzigerjahre wurde es in einem christlichen Verlag veröffentlicht. "In diesem Buch hat er die Mordnacht beschrieben, aber auch die Auseinandersetzung mit seinem christlichen Glauben und der Vergebung. Das Buch war ein bisschen der Auslöser für Fragen an meine Mutter", erzählt sie.
"Ich wollte dieses Mysterium für mich lösen, aber auch immer ein bisschen mit dem Hintergedanken, das Trauma zu brechen und nicht potenziell an eine weitere Generation weiterzugeben."
Ihre Mutter habe Lilli zwar die Fragen zu dem Buch ihres Opas beantwortet, mehr aber nicht erzählt. Und Lilli merkt, dass da noch was ist – etwas, über das geschwiegen wird. "Ich hatte das Gefühl, dass dieses Buch – und auch die damit verbundene Geschichte – etwas Rätselhaftes hatte. Etwas Mysteriöses. Auch eher was Dunkles. Aber es fühlte sich auch total weit weg von mir an, als hätte das nicht wirklich etwas mit mir zu tun", sagt sie.
Mit ihrer Schwester spricht sie dann über einen wiederkehrenden Traum – einen Traum, den ihre Schwester seit ihrer Kindheit hatte: Darin würde sie verfolgt und Menschen um sie herum würden erschossen, erzählt sie Lilli. Und: Sie würde sich tot stellen in diesem Traum.
Das, was ihre Schwester träumt, hat starke Parallelen zu dem, was ihr Großvater erlebt hat. Für solche wiederkehrenden Schlüsselerlebnisse über Generationen hinweg gibt es einen Begriff: transgenerationales Trauma.
Seelische Wunden vererben
Was genau ein Trauma ist, erklärt die Psychologin und Systemische Therapeutin Sandra Konrad: "Wir verstehen unter einem Trauma, wenn jemand eine ganz schwere seelische Verletzung erlebt hat, die er mit seinen üblicherweise zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen nicht halten konnte." Der Auslöser kann zum Beispiel eine Naturkatastrophe sein, eine Krankheit, sexueller Missbrauch oder Gewalterfahrungen wie bei Lillis Großvater.
"Alles, was in einer Generation nicht verarbeitet wird, hat Auswirkungen auf die Folgegenerationen."
Wird ein Trauma nicht verarbeitet, weil darüber beispielsweise geschwiegen wird, kann das Trauma von Generation zu Generation auch vererbt werden, so die Psychologin. Das passiere auf verschiedenen Wegen. Einer ist die Weitergabe über die Gene. Sandra Konrad bezieht sich dabei auf die Epigenetik. Das ist ein Fachgebiet in der Biologie.
Das Trauma in unseren Genen
Forschende untersuchen dabei den Einfluss von Umweltfaktoren auf unsere Gene. Dabei hat sich schon gezeigt, dass Infos über soziale Interaktion, Stress, Fürsorge oder auch Krankheit von unterschiedlichsten Lebewesen im System abgespeichert werden. "Inzwischen weiß man von vielen Arten, dass diese Informationen – auf Wegen, die man noch nicht so genau kennt – auch in die Keimzellen gelangen und dort schon mal vormarkieren für die nächste Generation", erklärt Zellforscherin Irene Adrian-Kalchhauser. Sie ist die Direktorin des Instituts für Fisch- und Wildtiermedizin an der Uni Bern.
Zu dieser Erkenntnis über die Weitergabe bestimmter Informationen in den Genen sind Forschende in Studien mit Mäusen gekommen. Beim Menschen würden sich aber ähnliche Mechanismen zeigen. "Beim Menschen weiß man das vorwiegend über populationsübergreifende Effekte, wo große Stresssituationen, die sich auf viele Menschen gleichzeitig ausgewirkt haben, tatsächlich Spuren in den Nachfolgegenerationen hinterlassen", erklärt die Zellforscherin.
Informationen an die nächste Generation weiterzugeben, kann auch nützlich sein, zum Beispiel, wenn sie unser Überleben sichern. Aber es kann eben auch dazu führen, dass eine Information in der Form eines Traumas weitergegeben wird.
Psychologie: Traumata vererben
Aus psychologischer Perspektive gibt es neben den Genen noch weitere Wege, über die Traumta vererbt werden können. Das sind einmal Bindungserfahrungen zwischen der Mutter oder dem Vater und dem Kind. Und auch die Geschichten, die innerhalb einer Familie erzählt werden beziehungsweise nicht erzählt werden.
Wird über ein prägendes Erlebnis kollektiv geschwiegen, "fühlen sich Kinder dann sozusagen in die Erlebniswelt oder in die Gefühlswelt der Eltern rein und übernehmen oftmals die abgespaltenen Gefühle", erklärt Psychologin Sandra Konrad. Das heißt: Die Gefühle, die die Eltern oder Großeltern vermeiden wollen, fühlen ihre Kinder oder Enkelkinder.
Ein trangenerationales Trauma lässt sich beispielsweise an den Glaubenssätzen erkennen, die wir haben. Sandra Konrad erinnert sich an einen Klienten, der große Verlustängste hatte, obwohl er sehr wohlhabend war. In der Arbeit mit der Psychologin hat sich dann gezeigt, dass seine Großeltern im Krieg auf ihrer Flucht alles verloren haben: ihr Zuhause, ihren Reichtum. Über die Ängste, Sorgen und das Trauma der Großeltern wurde in der Familie aber nie gesprochen, so Sandra Konrad. Und ihr Klient habe diese Gefühl dann als sein eigenes Lebensgefühl übernommen.
Auch Lilli hat ihre Familiengeschichten genauer erforscht, hat mit Verwandten gesprochen und in Archiven recherchiert. Für sie hat sich das "selbstermächtigend" angefühlt, sagt sie. Das Offenlegen der Familiengeschichte habe ihr die Bedrohlichkeit genommen. "Ich habe diesen Teil der Familiengeschichte damit zurückgewonnen und in die Gesamtfamiliengeschichte integrieren können", erklärt sie.
Wie wir unsere Eltern oder Großeltern auf ihre Vergangenheit ansprechen können, auf etwas, über das sie vielleicht lieber schweigen würden, das erzählt Psychologin Sandra Konrad im Podcast. Dort erfahrt ihr auch mehr über Lillis Familiengeschichte. Klickt dafür oben auf den Play-Button.
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