Am 6. August 1969 starb der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno. Er ist einer der einflussreichsten Intellektuellen der Nachkriegszeit. Sein Vortrag "Was ist deutsch?" aus dem Jahr 1965 zeigt, dass seine Gesellschaftskritik zwar mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist, aber noch immer drängend aktuell.
Diese Aktualität sollte uns aber weniger dazu veranlassen, Adorno für seine Weitsicht zu loben, so der Philosoph Dirk Braunstein im Interview. Vielmehr sollten wir darüber nachdenken, wie wir die schon damals angemahnten Missstände endlich ändern könnten.
"Ungewiss, ob es etwas wie den Deutschen, oder das Deutsche, oder irgendein Ähnliches in anderen Nationen überhaupt gibt."
"Unmerklich langsam formiert sich ein Klima, das verpönt, was am notwendigsten wäre: kritische Selbstbesinnung." Auch dieser Satz von Theodor W. Adorno aus seinem Essay "Was ist deutsch?" passt gut in unsere Zeit, in der das politische Klima und die gesellschaftlichen Debatten stetig rauer werden und kritische Selbstbesinnung Seltenheitswert bekommt. In dem Essay, das er 1965 im Deutschlandfunk gesprochen hat, verweigert sich Adorno zunächst der Antwort auf die titelgebende Frage. Stattdessen zweifelt er an, dass es das Deutsche überhaupt gibt und warnt davor, Stereotype zu bilden.
"Kritische Theorie hat unabdingbar ein utopisches Moment in sich."
Über spannende gedankliche Umwege – zum Beispiel erklärt er sehr persönlich, warum er als von den Nazis Vertriebener nach dem Krieg trotz allem nach Deutschland zurückkehrte – kommt er schließlich doch zu einem Ergebnis, erklärt der Philosoph Dirk Braunstein, der das Essay für uns im Interview analysiert und kommentiert: Das Deutsche, so wie jede andere Nation, müsste laut Adorno in etwas Höheres aufgehoben werden: der Menschheit. Die habe sich laut Adorno, so Braunstein, bis dahin noch nicht realisiert. Oder stark vereinfacht: Wenn das Nationale überwunden würde, hätte die Menschheit gewonnen.
Adorno- Bücher zum Einstieg:
Um sich in das Denken Theodor W. Adornos und die Kritische Theorie einzulesen, empfiehlt Dirk Braunstein zwei Lektüren:
Adornos Buch "Minima Moralia", ist auch für Philosophie-Einsteiger einfach zu lesen, sagt der Philosoph. Adorno hat es im Exil geschrieben. Das Buch enthält eine Sammlung kurzer, in sich geschlossener Texte, die im Kern alle um die Frage kreisen, wie ein moralisches Leben in einer kapitalistischen Gesellschaft und nach den Schrecken des Dritten Reiches noch möglich ist. Das Buch findet ihr unter anderem als Taschenbuch von Suhrkamp.
Außerdem empfiehlt Dirk Braunstein Adornos "Einleitung in die Soziologie". In der Vorlesung aus dem Jahr 1968 erklärt Adorno sehr verständlich seine Sicht auf die Soziologie, und gleichzeitig erfährt man dabei ganz viel über die Kritische Theorie, so Braunstein. Die Vorlesung ist ebenfalls als Taschenbuch bei Suhrkamp herausgekommen.
"Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht."
Theodor W. Adorno ist 1903 in Frankfurt am Main geboren. Seine Mutter war katholisch, sein Vater Protestant aus einer jüdischen Familie. Von ihm stammt übrigens auch das "W." im Namen – das steht für seinen Nachnamen Wiesengrund. Adorno war nicht nur Philosoph und Soziologe, sondern auch Komponist und zunächst Musikkritiker.
Ab 1931 dann lehrte er als Dozent in Frankfurt – bis die Nationalsozialisten es ihm 1933 verboten. Adorno konnte emigrieren und verbrachte die Zeit des Nationalsozialismus vor allem in den USA. Dort wurde er Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, das in Frankfurt am Main von den Nazis geschlossen worden war, aber in die Vereinigten Staaten verlegt worden konnte.
Exil und Rückkehr
Aus diesem Institut war die Kritische Theorie der sogenannten Frankfurter Schule hervorgegangen, zu deren wichtigsten Vertretern Adorno zählt, und die unter anderem die Soziologie im Nachkriegsdeutschland und auch die Studentenbewegung nachhaltig beeinflusste. Im Exil schrieb Adorno unter anderem mit Max Horkheimer eines seiner bedeutendsten Werke, die "Dialektik der Aufklärung". Nach dem Krieg, 1951, wurde das Institut dann wieder in Frankfurt aufgebaut. Adorno ging mit zurück, wurde später Direktor dort und lehrte Philosophie und Soziologie an der Uni Frankfurt.
Das Essay "Was ist deutsch?" hat Theodor W. Adorno im Mai 1965 für den Deutschlandfunk gelesen. Ihr findet es als Text unter anderem in der Sammlung "Adorno – Kulturkritik und Gesellschaft I" (Taschenbuch, Suhrkamp 2003).
"Wenn das alles doch schon vor über 50 Jahren wahr gewesen ist und Adorno vor gefährlichen Entwicklungen gewarnt hat, dann kann das ja nur heißen: Irgendjemand müsste irgendwann mal irgendeinen Arsch hoch kriegen, um wirklich das zu ändern, was einfach immer gleich bleibt.“
Dirk Braunstein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung an der Frankfurter Goethe-Universität, wo auch Theodor W. Adorno gearbeitet hat. Er befasst sich schon seine gesamte wissenschaftliche Karriere lang mit Adorno und der Kritischen Theorie und arbeitet derzeit an der Herausgabe sämtlicher erhaltener Sitzungsprotokolle zu den Frankfurter Seminaren Theodor W. Adornos.
Braunstein erklärt und kommentiert den Vortrag Adornos und gibt im Interview außerdem Einblick in Adornos Werk und Wirkung und in die Kritische Theorie der sogenannten Frankfurter Schule früher und heute.