Durch Achtsamkeit würden wir nur versuchen, Stresssymptome und die Belastung im Leben zu bewältigen, anstatt nach deren Ursachen zu fragen. Warum das eine falsch verstandene Achtsamkeit ist, erklären Main Huong Nguyen und Diane Hielscher.
Die Kritik an Achtsamkeit lautet oft: Sie trage wesentlich zur Individualisierung sozialer Probleme bei, indem sie die Aufmerksamkeit von der institutionellen Produktion von Stress und der Belastung des heutigen Lebens ablenkt und auf das Individuum abwälzt. In diesem Sinne diene die Achtsamkeit dem Zweck der Stressbewältigung, damit wir weiter das stressige Leben aushalten können.
Achtsamkeit als Flucht vor den wahren Problemen?
Diejenigen, die für Achtsamkeit sind, würden damit gleichzeitig behaupten, dass alle anderen, die mit dem Stress nicht klarkommen, selbst schuld daran seien, statt die strukturellen Probleme oder Systeme zu hinterfragen, die den Stress auslösen.
Eine andere Kritik an Achtsamkeit ist das Spiritual Bypassing, die spirituelle Umgehung von Problemen, Krisen oder besorgniserregenden oder katastrophalen Nachrichten.
"Das bedeutet, dass man sich nicht mit aktuellen Problemen, Politik und den Nachrichten beschäftigt oder eigenen Fehler nicht kommentiert und sich immer ausschließlich auf seine Spiritualität beruft."
"Wir sehen Achtsamkeit aber im wissenschaftlichen Kontext", sagt Deutschlandfunk-Nova-Moderatorin Diane Hielscher. Gemeinsam mit der Psychologin Main Huong Nguyen schaut sie, welche Studien es zu Achtsamkeit gibt.
Achtsam Leid vermeiden
Außerdem betrachten Main Huong und Diane Achtsamkeit im Kontext des Buddhismus: Die Achtsamkeitspraxis ist im Buddhismus eingebettet in ein ethisches, moralisches System, die so schon seit über 2600 Jahren praktiziert wird. Das wird auch als die sogenannte Rechte Achtsamkeit bezeichnet. Dabei wird die Fähigkeit der Achtsamkeit kultiviert, um so zu denken, sprechen und handeln, damit wir selbst und unser Umfeld nicht leiden beziehungsweise Leiden transformieren. Achtsamkeitstraining kann auch Altruismus erhöhen.
Achtsamkeit als Weg und nicht als Werkzeug
"Achtsamkeit ist ein Weg, nicht ein Werkzeug. Sie ist kein Werkzeug, um etwas zu bekommen – und sei es Entspannung, Konzentration, Frieden oder Erwachen. Sie ist kein Mittel zum Zweck, zur Verbesserung unserer Produktivität, unseres Wohlstands oder Erfolgs. Mit wahrer Achtsamkeit kommen wir bei jedem Schritt am Ziel an. Dieses Ziel ist Mitgefühl, Freiheit, Erwachen, Frieden und Furchtlosigkeit. Wahre Achtsamkeit kann niemals von Ethik getrennt werden. Wenn Ihre durch Achtsamkeit erlangte Einsicht echt ist, wird sie die Art und Weise verändern, wie Sie die Welt sehen und wie Sie leben wollen."
Aus "Zen und die Kunst, die Welt zu retten" von Thich Nhat Hanh
"Es regt mich auf, wenn Leute Achtsamkeit kritisieren, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, zu gucken, woher das alles kommt. Dann denke ich mir immer: Leute, ihr nehmt es aus dem Kontext, höhlt es total aus, damit es einfach ist und dann beschwert ihr euch, dass es so hohl ist!"
Warum Achtsamkeit so wichtig ist für die menschliche Transformation, in der wir gerade stecken, erklärt Diane im Zusammenhang mit den Inner Development Goals (IDG). Das sind Ziele, die wir erreichen müssen, um die von den Vereinten Nationen aufgestellten Sustainable Development Goals (SDG) umzusetzen. Die UNO hat bestimmte SDG ermittelt, die wir als Menschheit erreichen müssen, um eine lebenswerte Zukunft schaffen zu können.
Dazu müssen wir aber erst uns selbst ändern, da Veränderung immer aus dem Inneren kommen muss und nie von außen oktroyiert werden kann. Zu den IDG gehören:
- Beeing: das eigene Sein erkunden
- Thinking: die Fähigkeit flexibel zu denken
- Relating: zu anderen und der Umwelt eine Beziehung aufbauen
- Collaborating: Zusammenarbeiten
- Acting: Veränderung tatsächlich umsetzen, mit Mut und neuen Ideen
Deshalb:
"Achtsamkeit und alles, was damit zusammenhängt, ist wichtig für den Planeten, für unser Zusammenleben und für alle Menschen", sagen Main Huong und Diane.
Ihr habt Anregungen, Ideen, Themenwünsche? Dann schreibt uns gern unter achtsam@deutschlandfunknova.de
- Böckler, A., Tusche, A., Schmidt, P., & Singer, T. (2018). Distinct mental trainings differentially affect altruistically motivated, norm motivated, and self-reported prosocial behaviour. Scientific Reports, 8(1), 13560.
- Heidenreich, T., & Michalak, J. (2007). Achtsamkeit und Akzeptanz: Opium für das Volk?. PiDPsychotherapie im Dialog, 8(02), 194-195.
- Kirmayer, L. J. (2015). Mindfulness in cultural context. Transcultural psychiatry, 52(4), 447- 469.
- Thich Nhat Hanh: "Zen und die Kunst, die Welt zu retten", Lotos Verlag, 2. Auflage 2022, 304 Seiten
- Meditation, um die Verbundenheit mit der Umwelt zu stärken