Elkes Vater starb 2009. Doch Teile von ihm waren schon viel früher verschwunden. Mit 53 Jahren hat Elkes Vater einen Zusammenbruch. Die Diagnose der Ärzte: irreparabler Gehirnschaden - die Folge von zu viel Alkohol. Alles, was er nach seinem Zusammenbruch erlebt, vergisst er nach kurzer Zeit wieder. Elkes Vater lebt fortan nur noch in der Vergangenheit.
Im Jahr 2009 ist mein Vater gestorben. Ein Teil von ihm ist aber eigentlich schon viel früher verschwunden: Nämlich fast 20 Jahre davor, im Jahr 1988. Dem Jahr, in dem er Teile von seinem Gedächtnis verloren hat. Da war mein Vater gerade mal 53 Jahre alt.
Bis Anfang der 80er Jahre geht für meinen Vater vieles gut im Leben: Er ist Lehrer. Unterrichtet Latein und Altgriechisch. Ist beliebt bei seinen Schülern. Arbeitet zusätzlich als Schulpsychologe. Liebt Musik und Literatur. Und er ist ein liebevoller Vater. Für mich und meine große Schwester. Einer, der meistens fröhlich ist, singt oder pfeift. Der sich vor Lachen den Bauch hält, wenn wir Kinder schlechte Witze erzählen. Und der gerne unter Leuten ist. Und einen ganzen Tisch unterhalten kann mit seinen Anekdoten. „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag“. Das ist ein Spruch, den mein Vater immer morgens nach dem Aufstehen sagt. Das hat mir meine Mutter erzählt.
"Bis Anfang der 80er Jahre geht für meinen Vater vieles gut im Leben: Er ist Lehrer. Unterrichtet Latein und Altgriechisch. Ist beliebt bei seinen Schülern. Arbeitet zusätzlich als Schulpsychologe. Liebt Musik und Literatur."
Wann sich das ändert: Das kann keiner von uns so ganz genau sagen. Fest steht: Mein Vater hat immer schon mehr getrunken als andere. Und irgendwann zu viel. Als ich sechs Jahre alt bin, trinkt er so viel, dass meine Mutter, meine Schwester und ich schließlich zu Hause ausziehen. Mein Vater lebt ab jetzt alleine, zwei Jahre lang. Und dann ist da dieser eine Tag - ein Dienstag im Sommer 1988. An dem er die Tür nicht mehr öffnet. Ein Freund verschafft sich Zutritt zum Haus. Und da findet er meinen Vater dann: so geschwächt, dass er nicht mehr aufstehen kann. Er kommt ins Krankenhaus. Sein Zustand ist kritisch. Die Diagnose der Ärzte: Irreparabler Gehirnschaden.
"Mein Vater hat immer schon mehr getrunken als andere. Und irgendwann zu viel."
Wenn der Vater das Gedächtnis verliert
Mein Vater leidet ab jetzt an einer schweren Gedächtnisstörung. Eine Folge davon, dass er jahrelang stark getrunken hat. Die Verbindung zwischen Langzeit– und Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr richtig. Das heißt: Fast alles, was er ab jetzt erlebt, vergisst er schon nach kurzer Zeit wieder. Er weiß nicht mehr, was er gestern oder vor einer Woche gemacht hat. Oder worüber er mit wem gesprochen hat.
Was das für ihn und uns bedeuten wird, davon hab ich damals keine Ahnung. Ich bin acht Jahre alt. Und dass mein Vater im Krankenhaus ist, davon bekomme ich kaum was mit. Mein Leben besteht aus Grundschule, Reitstunden, Gitarrenunterricht. Meine Mutter besucht meinen Vater erst mal nur alleine. Sie will uns nicht belasten. Aber irgendwann sagt sie es uns: Papa wird nicht mehr zu sich nach Hause kommen. Er lebt ab jetzt im Heim.
Mit 53 Jahren in ein Seniorenheim
Heute würde man meinen Vater vielleicht in eine spezielle Pflegeeinrichtung für Demenzkranke bringen. 1988 gibt’s sowas bei uns in der Gegend aber nicht. Und deswegen zieht mein Vater mit 53 Jahren in ein Seniorenheim. Es liegt an einem Fluss weit außerhalb der Stadt. Und endlich dürfen wir ihn dort auch besuchen. Ich habe ein mulmiges Gefühl, als ich zum ersten Mal dort bin. Das Heim ist riesig. Es gibt lange Flure mit dunkelgrünen Teppichen. Braune Holztreppen. Alles ist irgendwie düster und überall sitzen weißhaarige Menschen, die meine Urgroßeltern sein könnten. Am Ende des Flures im 2. Stock liegt das Zimmer von meinem Vater. Tür auf – und da sitzt er jetzt an einem kleinen Tisch. Auf den ersten Blick sieht er so aus wie immer: Ein großer Mann, leicht gebeugt in Hemd und Pullunder. Die dünnen braunen Haare sorgfältig zum Seitenscheitel gekämmt. Eine große Brille auf der Nase. Und - voller Freude, mich, meine Schwester und meine Mutter zu sehen.
"Mein Vater ist nicht mehr der Alte."
Aber wir merken es schnell: Mein Vater ist nicht mehr der Alte. Er fragt, wann er nach Hause darf. Raus hier. Und dann fragt er es nochmal. Und dann nochmal. Meine Mutter gibt ihm geduldig immer dieselbe Antwort. Sie erklärt, was passiert ist und warum er hier ist. Mein Vater vergisst es immer wieder. Er ist wahnsinnig bedrückt. Am Boden zerstört. Sein ganzes, großes Leben und die vielen Dinge, die es gefüllt haben, Möbel, Bücher, Platten, Anzüge – von all dem ist nicht mal ein Bruchteil hier auf zehn Quadratmeter gequetscht.
Elkes Vater vergisst
Noch ahnt keiner von uns, dass mein Vater sich von jetzt an viele Jahre fast nur in diesem Zimmer aufhalten wird. Und es wird lange dauern, bis wir wirklich begriffen haben, was das heißt, dass er diese Gedächtnisstörung hat. Dass er die Dinge, über die wir gesprochen haben, schnell wieder vergisst. Genauso wie Besuch, den er bekommen hat. Und wir merken, dass er sich nicht mehr richtig orientieren kann, weder zeitlich noch räumlich. Wo er ist, welcher Tag gerade ist – das ist ihm nicht so richtig klar.
Natürlich bekommt er mit, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Und es macht ihm große Angst. Deshalb treiben ihn in der ersten Zeit im Heim immer dieselben Fragen um: Was wird mit ihm werden? Wird man ihn zurück ins Krankenhaus verfrachten? Für meinen Vater ist das die schlimmste Vorstellung. Wir versuchen, ihn zu beruhigen. Ich schreibe ihm mit meinen acht Jahren ein großes Schild: "PAPA, Du musst nicht ins Krankenhaus." Das Schild hänge ich über seinen Tisch. Und hoffe, dass er drauf schaut, wenn er es mal wieder vergessen hat. Ich bin ein Kind und denke, dass ich ihm auf diese Weise helfen kann. Aber natürlich hab ich damals keinerlei Vorstellung davon, wie verloren er sich fühlen muss.
"Schlimm genug, jemandem sagen zu müssen, dass die eigene Mutter tot ist. Es ihm immer wieder zu sagen müssen, ist noch viel schlimmer."
Dass wir meinen Vater immer wieder erinnern müssen, ist schmerzhaft. Und besonders dann, wenn es um schlechte Nachrichten geht. Meine Oma, also die Mutter meines Vaters, ist in der Zwischenzeit an Krebs gestorben. Meine Mutter überbringt meinem Vater die Nachricht. Er ist geschockt. Und traurig. Und: Hat es beim unserem nächsten Besuch wieder vergessen. Schlimm genug, jemandem sagen zu müssen, dass die eigene Mutter tot ist. Es ihm immer wieder zu sagen müssen, ist noch viel schlimmer. So geht das ein paar Mal: Papa, Oma ist gestorben. Sie lebt nicht mehr. Jedes Mal ist die Nachricht wieder genau so schmerzhaft für ihn. Irgendwann bleibt sie dann aber doch hängen.
"Papa wird nie mehr der Alte werden"
Mit der Zeit schwindet die Hoffnung, dass sich das Gehirn meines Vaters vielleicht erholen kann. Körperlich wird er jetzt zwar immer fitter. Und er rührt, seit er im Heim ist, keinen Tropfen Alkohol mehr an. Aber: Je öfter wir ihn besuchen, desto klarer wird uns: Papa wird nie wieder der Alte werden.
Dabei stellt sich aber auch heraus, dass nicht das komplette Gedächtnis betroffen ist. Das Langzeitgedächtnis meines Vaters funktioniert erstaunlich gut. Für uns ist das schwer zu begreifen: Dieser Mensch, der nicht so genau weiß, warum er hier im Pflegeheim wohnen muss. Und der immer wieder fragt, welcher Tag gerade ist. Derselbe Mensch hat alles, was er bis zu seinem Zusammenbruch erlebt hat, ganz genau im Kopf. Und zwar bis ins kleinste Detail. Die Sprachen, die er gelernt hat, spricht er nach wie vor fließend, kann noch alle Vokabeln auswendig. Und er liebt es immer noch, Bücher zu lesen.
Es wird zu seiner Hauptbeschäftigung. Mein Vater hält sich jetzt regelrecht an seinen Büchern fest: Sie geben ihm die Orientierung, die er ansonsten verloren hat. Romane auf Englisch und Französisch. Shakespeare, Joyce, Hemingway. Das sind SEINE Autoren. Sachbücher über Medizin, Psychologie, Religion. Und sein Lieblingsbuch: Die Geschichte vom braven Soldaten Schweik. Seine Bücher pflegt er akribisch. Sie stehen in seinem kleinen Zimmer fein säuberlich aufgereiht, einige hat er in selbst gebastelte Papierumschläge eingeschlagen. Und in jedes einzelne vorne seinen Namen reingeschrieben.
Als wollte er sich selbst daran erinnern: Das sind meine Bücher und sie sind ein Teil von mir. Immer, wenn er wegen kleinerer Dinge dann doch mal wieder ins Krankenhaus muss: Ist das eine seiner ersten Fragen: Wo sind meine Bücher?
"Ich bin inzwischen im Teenageralter. Und auch ich habe mich daran gewöhnt, dass mein Vater im Heim lebt."
Nach ein paar Jahren hat sich mein Vater an das Heimleben gewöhnt. Er schreibt jetzt keine Briefe mehr an seine alte Schule, um zu fragen, wann er endlich wieder Latein unterrichten darf. Ich bin inzwischen im Teenageralter. Und auch ich habe mich daran gewöhnt, dass mein Vater im Heim lebt. Und dass es bei unseren Besuchen nur kurz um Neuigkeiten geht: Danach schweift er ab und erzählt von früher. Das ist seine Welt: Die der 40er bis 70er Jahre. Darüber kann er so faszinierend, farbig und detailreich erzählen, dass sie in unserer Vorstellung neu entsteht. Seine Geschichten sprengen die engen Mauern des Zimmers, in dem er jetzt gefangen ist
Es ist schön, ihm zuzuhören aber nicht immer leicht. Denn ich wünsche mir oft einen Vater, der das Leben von heute kennt und mich darin unterstützen kann. Mein Vater kann das nicht. Zwar hat er eine Tageszeitung abonniert. Er weiß, dass Gerhard Schröder Kanzler ist. Und fragt mich, was eigentlich eine CD-Rom ist. Vom Internet hat er auch schon mal gehört. Aber was ich ihm erkläre, bleibt nicht hängen.
"Ich wünsche mir oft einen Vater, der das Leben von heute kennt und mich darin unterstützen kann. Mein Vater kann das nicht."
Und mit den CD-Playern, die wir ihm schenken, wird er auch nicht warm. Er verschleißt einen nach dem anderen. Manchmal klebt er einen Zettel dran: DEFEKT. Das stimmt aber nicht immer. Mein Vater wünscht sich einen Plattenspieler. Er hatte eine riesige Plattensammlung und ganz bestimmte Lieblingsaufnahmen von klassischen Stücken. Dafür habe ich damals aber kein Verständnis. Ich denke, wenn er Beethoven mag, freut er sich über jede Beethoven-CD. Und schenke ihm weiter CDs. Ich will einen Vater, der wie alle anderen in den 90er Jahren einen CD-Player benutzt und keinen ollen Plattenspieler.
"Papa hat Korsakow"
Manchmal fragen mich meine Freunde nach meinem Vater. Dann versuche ich ihnen zu beschreiben, was mit ihm los ist. Aber so richtig gelingt mir das nicht. Niemand kennt jemanden, der in so einem Zustand ist wie er. Klar, es gibt Omas und Opas mit Alzheimer. Aber das ist was anderes. Wer Alzheimer hat, baut immer mehr ab. Verliert irgendwann auch die stärksten Erinnerungen. Aber das ist bei meinem Vater ja anders.
Irgendwann ist da aber ein konkretes Wort. Und das höre ich zum ersten Mal aus dem Mund meiner Schwester: Papa hat Korsakow, sagt sie. Ich lerne, dass Korsakow eine Gedächtnisstörung ist, die meistens dann auftritt, wenn man über längere Zeit stark getrunken hat. Sie entsteht durch einen Mangel an Vitamin B1 im Gehirn. Und sie führt in der Regel dazu, dass man sich neu Erlebtes nicht mehr merken kann, während alte Erinnerungen meistens unversehrt bleiben. Genau wie bei meinem Vater. Endlich hat das, was er hat, einen Namen. Für mich ist das eine riesige Erleichterung. Zu wissen, dass das ein bekanntes Krankheitsbild ist.
"Für mich ist das eine riesige Erleichterung"
Bei manchen Korsakow-Patienten gehört auch dazu, dass sie versuchen, Gedächtnislücken mit etwas zu füllen, was erfunden ist. Und auch bei meinem Vater ist das manchmal schwierig zu unterscheiden, ob er etwas wirklich erlebt hat oder nicht. Er erzählt uns zum Beispiel mal, dass seine alte Lehrerin ihn besucht hat. Ich fange sofort an zu rechnen: Er ist jetzt Anfang 60 – kann das denn sein, dass eine Lehrerin von ihm noch lebt? Und dass sie bei ihm im Heim war? Woher sollte sie wissen, dass er da wohnt? Oft glaube ich ihm seine Erzählungen nicht. Aber manchmal steht da tatsächlich ein Blumenstrauß auf dem Tisch oder es liegt ne Karte da. Und dann wissen wir: Mein Vater hat die Wahrheit erzählt.
"Einmal bringt meine Schwester Freunde mit ins Heim. Sie finden meinen Vater unglaublich nett und charismatisch. Aber dass er ihren Besuch wahrscheinlich schon bald komplett vergessen haben wird, das ist ihnen wohl nicht klar. "
Er bekommt auch mit, dass er Gedächtnislücken hat. Manchmal, während er etwas erzählt, schweift sein Blick zur Decke. Man kann ihm dann richtig ansehen, wie angestrengt er versucht, sich zu erinnern. Er streicht sich dann mit der Hand so über die Stirn, als ob er ein bisschen nachhelfen wollte. Man merkt, wie unangenehm es ihm ist, nicht weiter zu wissen. Aber er ist schon immer ein guter Schauspieler gewesen. Und oft kann er ganz gut überspielen, wenn ihm was nicht einfällt. So gut, dass Fremde ihm manchmal gar nicht anmerken, wie verwirrt er eigentlich ist. Einmal bringt meine Schwester Freunde mit ins Heim. Und sie sind begeistert. Sie finden meinen Vater unglaublich nett und charismatisch. Aber dass er ihren Besuch wahrscheinlich schon bald komplett vergessen haben wird, das ist ihnen wohl nicht klar.
Ein neuer Lebensabschnitt beginnt
Ende der 90erJahre zieht mein Vater um: In ein anderes Heim. Elf Jahre hat er fast ausschließlich in dem kleinen Zimmer verbracht. Das neue Heim ist freundlicher und heller. Es ist näher am Wohnort meiner Mutter, und es ist in dem Ort, in dem mein Vater aufgewachsen ist.
"Und auch ich ziehe um - da bin ich 19: Denn ich fange an zu studieren. Die kommenden Jahre werde ich ihn immer wieder mit der Neuigkeit von meinem Studium erfreuen: 'Papa, ich studiere jetzt.""
Und auch ich ziehe um - da bin ich 19: Denn ich fange an zu studieren. Englisch, Geschichte, Philosophie. Alles Fächer, für die mein Vater auch immer schon gebrannt hat. Ich bin stolz, als ich ihm sagen kann, dass ich jetzt zur Uni gehe. Und mein Vater ist stolz auf mich. Aber – auch das kann er sich einfach nicht merken. Die kommenden Jahre werde ich ihn immer wieder mit der Neuigkeit von meinem Studium erfreuen: „Papa, ich studiere jetzt“. Und dann wird fast immer derselbe Dialog folgen: Mein Vater wird sagen, dass er sich darüber freut, wird sich nach den Fächern erkundigen. Ich werde sie aufzählen. Er wird fragen, welche Schwerpunkte ich gesetzt hab. Und dann wird er von seinem Studium erzählen. Immer, wenn wir ihn jetzt besuchen, freue ich mich schon auf dem Flur darauf, dass er sich gleich so über mein Studium freuen wird.
"Irgendwann kommt der Anruf vom Pflegeheim: Mein Vater ist weg"
Auch in dem neuen Pflegeheim geht mein Vater nie vor die Tür. Vielleicht, weil ihm die immer gleichen vier Wände beruhigen und Sicherheit geben. Einmal will er dann aber doch nach draußen: Als er mitbekommt, dass es im Dorf ein Fest gibt. Auch andere Heimbewohner gehen hin, mein Vater schließt sich an. Wie es kommt, dass er auf dem Rückweg alleine ist, kann später keiner sagen. Irgendwann kommt der Anruf vom Pflegeheim: Mein Vater ist weg.
"Als mein Vater meine Mutter sieht, wundert er sich überhaupt nicht. Vielleicht, weil er sich nicht erinnern kann."
Meine Mutter ist aufgeregt. Die Polizei wird eingeschaltet. Alle suchen meinen Vater. Und dann – ist es meine Mutter, die ihn findet. Im Wald. Er hat sich verlaufen, sitz an nem Baum und schläft. Als mein Vater meine Mutter sieht, wundert er sich überhaupt nicht. Vielleicht, weil er sich nicht erinnern kann. "Komm, wir gehen." Das ist alles, was meine Mutter zu ihm sagt. Und mein Vater kommt mit. Keine großen Erklärungen nötig.
"Es ist ein Geschenk, dass ich meinen Vater noch habe"
In dieser Zeit begreife ich, dass es ein Geschenk ist, meinen Vater noch zu haben. Auch wenn er in der Vergangenheit lebt. Und wie schön es ist, dass er sich immer noch so an Dingen freut. Also an Büchern, an Musik. An Gedichten. Eben an allem, was ihm schon immer wichtig war. Sie halten ihn tatsächlich irgendwie am Leben. An Weihnachten 2005 bringe ich einen Stapel Liedblätter mit ins Heim: Es sind Jazzlieder. Bekannte Songs aus den 50er und 60er Jahren. Und ich frage meinen Vater, ob er Lust hat, mit mir zu singen. Sofort schmettert er los. Zusammen singen wir "The Lady is a Tramp". Aber mein Vater braucht den Text eigentlich gar nicht. Er kann ihn auswendig.
Das, woran mein Vater sich noch erinnert, möchte ich bewahren. Ich bitte ihn, einen Stammbaum seiner Familie aufzuzeichnen. Sofort malt er Namen und Striche auf ein Papier. Und erzählt Anekdoten dazu: Diese Tante hat immer die Kirchentreppen geschrubbt. Die andere blieb kinderlos. Jahre später werde ich in alten Dokumenten Belege für den Stammbaum suchen und feststellen: Mein Vater hat sich nirgends geirrt. Alle seine Angaben sind richtig.
"Ich notiere alles, was meinem Vater noch einfällt. Für später."
Zuhause finde ich eine Kiste mit alten Fotos. Schwarz-weiße Szenen aus dem Leben meines Vaters, bevor ich geboren wurde: Mein Vater, wie er lachend eine Skipiste runterbrettert. Wie er in der Kirche stolz meine Schwester übers Taufbecken hält. Und er mit seinen Schülern. Schulausflüge in den 70er Jahren. Mein Vater war beliebt bei seinen Schülern. Weil er lustig war und menschlich. Ich zeige ihm die Bilder, und sofort sprudeln die Geschichten. Er kennt noch die Namen der Schüler. Weiß, ob sie gut oder schlecht waren in Latein, was die Eltern gemacht haben. Ich notiere alles, was meinem Vater noch einfällt. Für später.
2008, kurz vor Weihnachten gibt’s bei Schlecker ein Sonderangebot: Günstige Plattenspieler. Meine Mutter ist begeistert und kauft gleich zwei. Einen für meine Schwester, und den zweiten für meinen Vater.
An Heiligabend bringen wir ihm den Plattenspieler. Ich bin wahnsinnig neugierig, wie er reagieren wird, denn wir haben auch eine Auswahl seiner alten Platten mitgebracht. Platten, die er seit 20 Jahren nicht mehr gesehen und gehört hat. Mein Vater freut sich riesig. Sofort legt er eine der Platten auf. Die Bedienung ist kein Problem für ihn. Als er den Arm auf die Platte setzt, merken wir, dass wir was Entscheidendes vergessen haben: Der Plattenspieler hat keine Boxen. Also erklingt nur die feine, kaum hörbare Resonanz, die eine Platte direkt erzeugt, wenn sie abgespielt wird.
"Seit er krank ist, war ich ihm nie näher als in diesem Moment."
Wir alle beugen uns anstrengt über den Spieler und lauschen. Gespannt beobachte ich meinen Vater. Erwarte, dass er lacht oder sich freut. Aber schon nach den ersten Tönen sehe ich, wie sich seine Augen mit Tränen füllen. Mein Vater sitzt da und weint. Er scheint sich zu erinnern: An eine längst vergangene Zeit. Als ich ihn so sehe, bin ich erschüttert. Seit er krank ist, war ich ihm nie näher als in diesem Moment. Und ich schäme mich. Dass ich nicht früher kapiert habe, wie wichtig seine Platten die letzten 20 Jahre in dem kleinen Zimmer für ihn gewesen wären. Noch eine Weile sitzen wir so: Gebeugt über den Plattenspieler und hören der leisen Melodie zu. Als wir gehen, versprechen wir, beim nächsten Mal Boxen mitzubringen. Aber dazu kommt es nicht mehr.
Elkes Vater kommt ins Krankenhaus
Wenige Wochen später muss mein Vater ins Krankenhaus. Es ist das Herz. Ab da kommt er nicht mehr auf die Beine. Er wird mehrmals in andere Krankenhäuser verlegt. Am Karfreitag 2009 stirbt er. 73 Jahre alt. Als meine Schwester den Nachttisch im Krankenhaus ausräumt, findet sie einen karierten Zettel, den sie selbst ein paar Wochen vorher für meinen Vater geschrieben hat. Darauf steht: "Du bist in der Universitätsklinik und Du wirst wieder nach Hause kommen." Bis zum Schluss hat er diesen Zettel bei sich aufbewahrt.
Einhundert-Autorin Elke Hofmann hat lange überlegt, ob sie die Geschichte ihres Vaters erzählen soll und darf - er selbst kann ja nicht mehr zustimmen. Sie hat sich dann aber doch dazu entschlossen, denn Elke sagt: Dass Alkohol schädlich ist, das weiß jedes Kind. Und wenn wir starke Alkoholiker sehen, dann sprechen wir oft abfällig über sie. Aber dabei vergessen wir, dass Alkoholiker auch mal ein anderes Leben hatten, dass sie vielleicht mal ein liebevolles Elternteil waren, großzügig, gebildet. Und das möchte Elke mit der Geschichte ihres Vaters zeigen: dass es sich lohnt, genau hinzuschauen, zu sehen, in welcher Welt sie leben und genau zuzuhören.
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