Auf einen Termin zur ADHS-Diagnose wartet man oft monatelang. Eine Künstliche Intelligenz soll nach nur 60 Sekunden Sprachnotiz helfen. Das kann funktionieren, aber nicht für alle.
“Fühlst du dich anders?“, “Fällt es dir schwer, dich zu konzentrieren?“: Das fragt die Künstliche Intelligenz Simon AI in großen Buchstaben auf pastellfarbenen Gemälden auf ihrer Webseite. Fragen, die wohl viele Menschen mit Ja beantworten würden. Ein Grund dafür – von vielen – kann ADHS sein.
Die Webseite wirkt übersichtlich und beruhigend. “Du bist nicht allein“, schreibt Simon AI. In 60 Sekunden will die Künstliche Intelligenz herausfinden, ob es in der Stimme Hinweise auf Neurodivergenz gibt. Zu Neurodivergenz gehört auch ADHS.
Die KI gibt keine Diagnose
Auf einen Termin zu einer ADHS-Diagnostik muss man oft monatelang warten, weil die Nachfrage so hoch ist. Bei Simon reicht für einen ersten Anhaltspunkt eine Sprachnachricht, in der man in einer Minute ein Bild beschreibt. Ein genauerer Test speziell für ADHS dauert fünf Minuten. Dann spuckt die KI wissenschaftlich aussehende Diagramme aus. Ab einem gewissen Punkt kosten mehr Infos.
Auf den ersten Blick sieht das Ergebnis wie eine fundierte Diagnose aus, aber Simon stellt klar: Eine Diagnose gibt es hier nicht. Trotzdem soll die KI ADHS-Muster in der Sprechweise erkennen und messen können. Das kann klappen, muss es aber nicht.
Kinder mit AHDS sprechen schneller, lauter und heiserer
Die Künstliche Intelligenz erkennt, wenn eine Stimme Gemeinsamkeiten hat mit der von Menschen mit bestätigter ADHS-Diagnose. Denn es gibt Unterschiede: Kinder mit ADHS sprechen lauter, heiserer oder schneller, sagt die Psychotherapeutin Mona Abdel-Hamid. Das kann am ADHS-Symptom Hyperaktivität liegen.
KI kann auf so etwas anspringen. Wirklich gut erforscht ist der Zusammenhang von Stimme und ADHS aber nicht. Und Daten gibt es fast nur zu Kindern.
ADHS ist bei Erwachsenen anders
Abdel-Hamid sagt, die Hyperaktivität lässt mit dem Älterwerden oft nach. Erwachsene mit ADHS sind auch weniger impulsiv als im Kindesalter.
"ADHS-Symptome sind nicht über die Lebensspanne kontinuierlich gleich."
Trotzdem kann die Künstliche Intelligenz Simon AI auch bei erwachsenen Testpersonen richtig liegen – nach eigenen Angaben in 80 Prozent der Fälle.
Biomarker-Forschung kann bei Diagnosen helfen
Simon AI analysiert Biomarker in der Stimme. Das sind körperlich messbare Faktoren, die auf Diagnosen hindeuten.
Solche Biomarker hat auch der Psychiater Georg von Polier untersucht. Er leitet die Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie in Leipzig. Von Polier will objektive und messbare Kriterien für Diagnosen finden, die sonst von subjektiven Eindrücken der Ärzt*innen abhängig sind.
Die kann man zum Beispiel in einem MRT-Scan vom Gehirn finden. Oder eben in der Stimme.
Von Polier hat eine Studie zu Stimme und ADHS mit ausgewertet. Darin haben Erwachsene mit ADHS unrhythmischer gesprochen, also mit mehr Schwankungen in Lautstärke und Tonhöhe. Die Studie muss noch unabhängig wiederholt werden, das ist in der Forschung üblich.
"Ich sehe viele Felder, wo uns die KI helfen kann, gute oder bessere Versorgung anzubieten."
In der Studie hat ein Algorithmus zu mindestens 75 Prozent richtig zwischen Menschen mit und ohne ADHS unterschieden. Künstliche Intelligenz könnte Hausärzt*innen bei einem ersten Verdacht assistieren, sagt von Polier.
Und KI kann auch in anderen Feldern helfen und die großen Datensätze der Biomarker-Forschung rechnen oder Patient*innen betreuen und so Personal einsparen.
Stimme kann auch Depressionen oder ein Trauma zeigen
Ärzt*innen sollten aber immer mit draufschauen, wenn es um Diagnosen geht. Stimme sei nur ein Anhaltspunkt von vielen, betont Psychotherapeutin Abdel-Hamid.
"Man sollte Stimme vielleicht testen als einen Puzzlestein in einem großen Pool an Tests, die wir machen müssen, um alternative Erklärungen auszuschließen."
Denn auch Depressionen oder Traumata können die Sprechgeschwindigkeit beeinflussen. Bei Heiserkeit kann es körperliche Krankheiten wie der Schilddrüse geben.
Eine Künstliche Intelligenz wie Simon AI wägt solche Alternativen nicht ab. Als Selbsttest für zu Hause ist sie deshalb wenig aussagekräftig.