Steffen Greiner war Außenseiter – ohne genau sagen zu können, warum eigentlich. In der Pubertät ist er auf einmal außen vor, wird nicht mehr zu Geburtstagen eingeladen. Er ist da irgendwie reingerutscht, ohne genau zu wissen, warum. Im Laufe des Lebens ist er an der Rolle aber auch gewachsen.
Anmerkung: Dieser Text ist die Grundlage für einen Radiobeitrag. Der beinhaltet Betonungen und Gefühle, die bei der reinen Lektüre nicht unbedingt rüberkommen. Außerdem weichen die gesprochenen Worte manchmal vom Skript ab. Darum lohnt es sich, auch das Audio zu diesem Text zu hören.
Die erste Szene
Mein Zimmer riecht nach Pubertät, nach Schweiß, vergessenen Pausenbroten im Müll und Hormonen. Wenn man den Rollladen runterlässt, sehe ich mich im Fenster wie in einem Spiegel. Mein Oberkörper ist nackt. Ich richte mich auf, richte mich ganz gerade aus und schaue mich an. Ich hebe das Kinn. Ich stemme meine Arme in die Hüfte. Der Kopf geht nach rechts oben, der Blick verharrt im weiten Nichts. Alles sagt: Ein Mann der Tat. Jetzt bin ich also bereit. Wofür, weiß ich nur noch nicht.
Ein Tag ist gekommen, vor dem ich mich gerne gedrückt hätte. Ich sitze im Musiksaal unseres Gymnasiums, schräg zur Klasse. Alle schauen mich an. Alle reden. Ich stelle mich taub. Ich versuche, mich zu verstecken. "Sag doch auch mal was, Steffen, du so, als Betroffener", hat unser Klassenlehrer gesagt. Sarkastisch und saarländisch. Also: "Sah doch a mò ebbes", hat er natürlich gesagt.
Es ist eine Klassenkonferenz, achte Klasse, und scheinbar geht es darum, warum die Klassengemeinschaft mich ausschließt, warum ich kein Teil der Gruppe mehr bin, von diesen fünfundzwanzig 14-Jährigen – und mir wird langsam klar, dass etwas ziemlich schiefläuft, hier und überhaupt. Vor allem mit mir, finden alle anderen.
Die Erklärung
Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kommen konnte. Wirklich nicht. Es gab die Dicken und die Schüchternen, die Kinder von geschiedenen Eltern, die ohne Papa und die aus den neuen Bundesländern mit Jeansjacken und Jogginghosen, es gab Mädchen mit Kopftuch und Jungs mit Hochwasser um die Knöchel, Mädchen mit Brüsten, Jungs mit Pickeln, Jungs mit Brüsten und Mädchen mit kurzen, fettigen Haaren.
Die Typografie der Außenseiter zwischen Kindheit und Pubertät ist barock. Jeder findet seine Falte. Meine war klein, leicht zu übersehen. Welche das war? Die des komischen Freaks, der sich für was Besseres hält. Jetzt war ich also offiziell: Außenseiter. Gesagt habe ich in der Klassenkonferenz natürlich nichts. Was auch.
Die Kindheit
Ich hatte eine glückliche Kindheit, würde man zumindest so sagen. Als der Kindergarten zu Ende war, hat mir Frau Morgenstern zum Abschied gesagt, ich wäre das liebste Kind gewesen. In der Grundschule haben dann alle die Gedichte abgeschrieben, die ich am Wochenende verfasst hatte.
Im Salon Evi, beim Haareschneiden, erzählte ich der Friseurin alles über die Welt der alten Griechen. Und als wir mit dem Kinderchor das Kindermusical "Knasterbax und Siebenschütz" aufgeführt haben, hab ich die Titelrolle gespielt. Einen unverstandenen alleine gelassenen Räuber. Die Eröffnungsmelodie war viel zu hoch für meine Stimmlage. Und unter dem dünnen Stoff meines Piratenkostüms hat mein Bein gezittert, so nervös war ich. Aber das störte niemanden.
Ich hatte damals viele Freundinnen und viele Freunde. Und als ich von der Grundschule im Vorort auf das Gymnasium in der Innenstadt gewechselt bin, kamen viele davon mit. In der fünften Klasse war ich dann auch gleich Klassensprecher.
Der Außenseiter
Wie hat das also angefangen mit dem Außenseitersein? Wahrscheinlich schleichend. Zuerst war mir am Gymnasium vieles neu. Vieles, was neu war, war mir unangenehm, die Spiele hatten auf einmal andere Untertöne, und auf einmal gab es Grenzen, die es vorher nicht gab, zwischen Jungen und Mädchen, zwischen drinnen sein und draußen sein. Da war ich immer zögerlich.
Irgendwann, so mit zwölf, vielleicht, haben mich meine Freunde nicht mehr zu ihren Geburtstagen eingeladen. Das war so die Zeit, als aus den Kindergeburtstagen langsam mehr wurde. Und ich war zu brav. Als liebstes Kind vom Kindergarten und Klassendichter stand ich zwangsläufig abseits, manchmal: Als wir in der Grundschule durch den Wald geschlichen sind und auf fremde Grundstücke geklettert sind, um zu sehen, wer am weitesten herankommt an die Häuser, war ich immer ganz hinten.
"'Dich nehmen wir nicht mehr mit', hat Robert gesagt. Und ich konnte das sogar verstehen."
Und ich bin immer rot geworden. Aus dem Bio-Unterricht habe ich mitgenommen, dass die Pupille im Auge sich verändert, je nachdem, wie wohlgesinnt man die Menschen betrachtet, die man anschaut, größer wird oder kleiner. Ich hab den anderen dann immer in die Augen geschaut, um zu sehen, ob die mich mögen. Absurderweise hatte ich gleichzeitig Angst vor Blickkontakt.
Als Astrid mich einmal mit riesigen Pupillen angeschaut hat, dachte ich, sie ist in mich verliebt und wurde rot. Ja, und irgendwann hat Benni mir erzählte: Vivien ist in dich verliebt. Ich wurde rot und sprachlos. Vivien war eine der Schönsten in unserer Klasse. Sie hatte tief blonde Haare und dunkle Haut. Und: Sie war zu jedem Geburtstag eingeladen und in der großen Pause hat sie heimlich geraucht. Sie machte mir ein merkwürdiges Kribbeln. Ich wusste einfach nicht, was zu tun war, stellte mir aber vor, jetzt immer nach der siebten Stunde Sex mit ihr in den Büschen auf dem Schulhof der Wirtschaftsschule gegenüber haben zu müssen.
"Ich war ziemlich frühreif und onanierte in meine Kinderunterhosen."
Die Vorstellung hat mir dann wieder Angst gemacht. Ich war ziemlich frühreif und onanierte auf sie in meine Kinderunterhosen. Im Fernsehen lief die Wiederholung von "Unser Lehrer Dr. Specht". Die Unterhosen habe ich dann mit Klopapier ausgestopft, damit sie nicht mehr so feucht sind. So bin ich damals dann rumgelaufen.
Als Vivien den Klassenlehrer dann tatsächlich gefragt hat, ob sie sich umsetzen könnte, ganz in meine Nähe, musste ich sie also schrecklich ignorieren. Geodreiecke und Zirkel stumm ausleihen, ganz ohne Blickkontakt, sowas.
"Christina, ihre beste Freundin, hat mir dann auf dem Weg zum Mülleimer eine Bananenschale auf den Kopf gelegt. Ich hab das blasiert ignoriert ."
Irgendwann hat sie dann angefangen mich zu hassen, glaube ich. Christina, ihre beste Freundin, hat mir dann auf dem Weg zum Mülleimer eine Bananenschale auf den Kopf gelegt. Ich hab das blasiert ignoriert und den glücklicherweise recht kurzen Rest der Stunde mit Bananenschale auf dem Kopf ausgehalten. Ich glaube, alle haben gelacht.
Die Herkunft
Ich komme aus einer Familie, die wahrscheinlich normaler nicht sein könnte. Meine Großeltern waren aus der Arbeiterschicht, mein Vater hat als erster in seiner Familie studiert. Auch was Anständiges: Berufsschullehrer ist er geworden, Wirtschaft, Datenverarbeitung, so etwas. Meine Mutter war Krankengymnastin und seit meiner Geburt Hausfrau. Als ich sieben war, ist mein Bruder dazugekommen. Wir waren nur zu viert, in einer abgeschlossenen Welt. Außerhalb gab es wenig, was mich hätte halten können. Die Großväter starben. Die Omas waren alt, die Tanten komisch. Meine Eltern hielten Abstand zu dieser Familie. Und sie hatten kaum Freunde. Ich weiß nicht, wie sehr sie sich liebten damals, und wie sehr es geteilter Frust war, der sie zusammengehalten hat. Meine Mutter wurde depressiv und aggressiv, sie hatte was an der Schilddrüse. Mein Vater verschwand. Nicht körperlich, aber geistig, er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, während Mama und ich uns angeschrien haben.
Schuldgefühle gegenüber der Mutter
Immerzu hatte meine Mutter Angst, dass sie einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall bekommt. Sie atmete dann schwer und drückte sich die Hände vor die Brust. Ich hatte Angst. Ich brachte ihr ein Glas Wasser. Ich habe wirklich geglaubt, wenn sie stirbt, ist es meine Schuld, und zwar einfach, weil ich da bin.
Irgendwann musste ich dann in eine Therapie, zu Herrn Vollrath. Wie damals, als ich diesen Kloß im Hals hatte, der nicht wieder weggehen wollte, als mein Opa Paul gestorben ist. Herr Vollrath und ich gingen spazieren. Ich mochte ihn. Aber ich wusste nicht, was mit mir nicht stimmen sollte. Ich war zwölf, ich war noch ein Kind, und scheinbar war ich krank und "Um Gottes Willen" verrückt, jedenfalls ganz anders als die anderen.
Die Gegenwart
Ich habe mit meinen Eltern, die immer noch zusammen sind und heute einen wesentlich glücklicheren Eindruck machen als während meiner Kindheit, längst über das alles gesprochen. Was wir zusammen erarbeitet haben: Dass sie damals zum Teil auch ihre eigenen Probleme auf mich projiziert haben, statt sich selbst Hilfe zu suchen.
Viel später, in einer anderen Therapie, in der ich dieses Thema aufarbeiten wollte, gab es einmal so ein Schweigen, weil ich was verstanden habe, was mir vorher ein Rätsel war: Mein Glaube an Gott. Das habe ich bis jetzt noch gar nicht erwähnt, ich bin so mit 13 Jahren extrem gläubig geworden.
Das war zu genau der Zeit, als mir der Halt verloren gegangen ist. Ich bin dann regelmäßig in die Kirche gegangen, hab sogar zu Hause gebetet. Ich war evangelisch, das passte, im Saarland waren nämlich die Katholiken in der Mehrheit und da war ich gerne Protestant.
Außerdem wurde ich an einem Karfreitag geboren. Klar dachte ich: Ich muss so eine Art Erlöser sein, aber einer, der noch nicht voll ausgereift ist. Ich dachte tatsächlich, ich sei von Gott für was Größeres bestimmt. 40 Tage in der Wüste. Depression, Größenwahn und Narzissmus haben in mir drin schon so gut zusammen gespielt, dass ich keine Verhältnisse mehr aufbauen musste, nach außen, zu den anderen.
"Im Rückblick würde ich sagen, dass diese Phase einfach nur die Suche nach einer schützenden Vaterfigur war."
Im Rückblick würde ich sagen, dass diese Phase einfach nur die Suche nach einer schützenden Vaterfigur war, als mein Vater schon nicht die Kraft hatte oder den Willen, mich zu schützen vor der Krankheit meiner Mutter.
Das Besser/Anderssein
Ich übte mich in Überlegenheit. Ich identifizierte mich mit älteren Männern aus der Oberschicht. Im Radio liefen Cher und die Spice Girls, aber ich habe Pop-Musik verachtet. Ich verbrachte meine Zeit mit einer Zusammenstellung von Wagner-Opern aus dem Karstadt und mehr noch mit der Carmina Burana. Irgendwann kam Pink Floyd dazu, warum auch immer, "The Wall". Ich konnte damals zu wenig Englisch, um zu verstehen, dass das etwas mit mir zu tun haben könnte.
Als wir im Englischunterricht in der Achten einen Freund vorstellen sollten, hab ich einfach Thomas Bernhards Biografie vorgestellt. Thomas Bernhard war ein österreichischer Schriftsteller und Menschenhasser, gestorben in den Achtzigern. Weil, Freunde gab es eben nicht mehr. Rot bin ich da schon nicht mehr geworden, mich hat sowieso niemand mehr angeschaut.
Das Nichtwaschen
Ich habe damals aufgehört, mich zu waschen. Der Zwang, einen gut riechenden Körper zu haben, war für mich falsch. Menschen riechen schließlich schlecht, dachte ich mir. Der Geruch meines Mundes war ein Statement gegen eine verlogene Gesellschaft. Meine Haare wurden länger und dunkel von Schmierigkeit. Ich saß in der Schulbank und ließ Schuppen auf die Hefte regnen, kratzte mir die Kopfhaut, um noch die letzten loszulösen. Und dann zeigte ich triumphierend die Ernte im Vokabelheft. Ich wurde eklig. Ich fühlte mich mächtig. Und gleichzeitig schämte ich mich. So war das. Ich war dreizehn. Nichts passt zusammen.
Der einzige Ort, an dem ich mich wohlfühlte war die Kirche: Da waren die Menschen anders, ehrlicher, älter, die Helfer vom Kindergottesdienst, der Vikar, der Pfarrer. Denen war vermutlich auch egal, wie feucht-stickig es aus meinen Unterhosen roch oder wie fettig meine Haare waren. Vielleicht tat ich ihnen auch einfach nur leid.
Die anderen Außenseiter
Ich war einsam, aber nicht allein. Denn ich war nicht der einzige Außenseiter. Im Schulbus saß ich meistens alleine bis zur Haltestelle "Am Ostschacht", dann stieg Christian ein und setzte sich neben mich. Dann war da noch Tarek. Tarek gehört genauso wenig dazu wie Christian und ich. Sein Vater war aus dem Libanon. Was mit Christian los war, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich war er einfach arm. Tarek war der einzige Mensch, den ich jemals angegriffen habe, einmal in der Pause, einfach so. Weil ich so frustriert war. Und ein bisschen auch, um einmal zu spüren, wie sich diese Überlegenheit eigentlich anfühlt, wenn man nicht in den Spiegel schaut, sondern: So in echt. Wir waren immer kurz davor, umzukippen. Heute würde ich sagen: Da wirkte alles in uns, was bescheuert ist an der Männlichkeit. Vor einer anderen hatten wir Angst. Heute sind die Schlagzeilen voll mit solchen Männern, mit radikalen, frustrierten Erlöser. Immer, wenn ich Anders Breivik sehe, frag ich mich: Hätte ich das sein können, wenn sich nichts geändert hätte?
"Immer, wenn ich Anders Breivik sehe, frag ich mich: Hätte ich das sein können? Wenn sich nichts geändert hätte?"
Der Umbruch
Das ging so bis ich so 14, 15 Jahre alt war. Dann hatten wir eine neue Klassenlehrerin, sie hat die Sitzordnung verändert und Strukturen aufgebrochen. Irgendwann hat sogar wieder ein Mädchen mit mir geredet. Und in den Osterferien ließ ich mir einen Vollbart wachsen, ganz ungeplant, einfach, weil ich es konnte. Das verschaffte mir Anerkennung. Ich entdeckte Jim Morrison und Freddie Mercury, die waren auch anders und dunkel, na klar, aber charismatischer und cooler als Richard Wagner.
Das drehte meine Pose ins Positive. Am Ende des 9. Schuljahres wurde eine Parallelklasse aufgelöst, die F3. Die Schüler und Schülerinnen wurden verteilt. Nach den Sommerferien saß ich neben neuen Klassenkameraden. Ich musste mich nur ein bisschen zusammenreißen. Ich wusste, ich konnte es schaffen.
Der Triumph mithilfe des Sports
Als ich wieder aufgetaucht bin, nach vier, fünf Jahren, war es, als hätten alle nur auf mich gewartet. Das lag auch am Sport: In der Schule war es die einzige Zeit für mich, in der ich Pause von mir hatte. Ich musste nie lange auf der Bank sitzen, wenn gewählt wurde, nicht einmal in meinen schlimmsten Zeiten. Ich war gut – ich war wahnsinnig schnell, ich konnte kämpfen, ich verstand alles außer Fußball. Diese eineinhalb Stunden in der Woche haben mich im sozialen Leben gehalten. Nicht ganz zwei Jahre später war ich plötzlich der beste Dreispringer im Saarland. Ich entwickelte einen neuen Körper, ein neues Denken, eine neue Identität, ich wurde Leistungssportler.
Ich war plötzlich wieder Teil einer echten Gemeinschaft im Hier und Jetzt und nicht nur von einer zukünftigen im Himmelreich. Ich denke immer: Das ist eine runde Geschichte: Wie der Sport mich gerettet hat oder wie ich mich selbst gerettet habe.
"Manchmal stehe ich noch immer da und fühle mich schrecklich anders, alleine und ausgestoßen."
Aber natürlich gibt es sowas nicht, eine runde Geschichte. Manchmal stehe ich noch immer da und fühle mich schrecklich anders, alleine und ausgestoßen. Gruppen, die in Clubs aufs Klo verschwinden und ohne mich Lines ziehen. Sexgeschichten, die ich nie erleben konnte. Blicke, die ich nicht deuten kann. Kleine Pupillen. Zu große Pupillen. Sensibilitäten für leise Signale. Ich rede mir ein, dass das etwas ganz anderes ist, das Heute. Und weiß, dass das nicht stimmt.
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