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Merle studierte für ein Semester in Belgien – und litt so stark unter Heimweh, dass sie psychisch und physisch daran zu zerbrechen drohte. Psychologin Angela Kundegraber-Leherb erklärt, wie Heimweh entsteht und wie wir am besten damit umgehen.

Viele Erwachsene denken: Heimweh – dieses Gefühl haben nur Kinder. So ein typisches Gefühl, wenn Tochter oder Sohn im Sommer zum ersten Mal auf eine Ferienfreizeit fahren – und entweder sofort oder nach ein paar Tagen merken, dass da was nicht stimmt.

Stimmt aber nicht. Auch Erwachsene können Heimweh haben.

Merle war mit 18 schon mal fast ein Jahr in Israel und Palästina. Deshalb dachte sie, dass ein Auslandssemester Sozialwissenschaften in Belgien für sie kein Problem wird. Da war sie dann auch schon 21. Allerdings kam es ganz anders. Es fing schon damit an, dass sie sich mit ihrer Mitbewohnerin in der Studenten-WG in Belgien nicht so gut verstanden hat: "Ich hab dem am Anfang eine Chance gegeben, denn natürlich versteht man sich nicht ab Tag eins gut."

Kein guter Start im Auslandssemester

In den ersten Wochen hat Merle dann aber auch festgestellt, dass das Unipensum nicht so hoch ist wie gedacht. Außerdem hat ihr das Freizeitangebot gefehlt: "Nach etwa einem Monat hat man gemerkt, da kommen nicht mehr Angebote von der Uni für Austauschstudierende. Das ist nicht diese Anfangsphase, die holprig ist – es wird hier nicht besser. Und zu Hause hätte ich 10.000 Sachen gehabt, die ich stattdessen hätte machen können."

Mit der Zeit hat Merle dann schon Dinge mit anderen Personen unternommen, die sie als schön empfunden hat – doch selbst dann kam das Heimweh durch. Dass Merle nicht in der Heimat sein konnte, hat sie einerseits traurig gestimmt. Dieses Gefühl hat aber auch körperlich was mit ihr gemacht. "Mir war immer total übel und ich hatte Schwierigkeiten, etwas zu essen. Das war auch so eine Erfahrung, die ich vorher noch nicht gemacht habe."

"Das Heimweh hat mir richtig auf den Magen geschlagen."
Merle, studierte ein Semester in Belgien und litt stark unter Heimweh

Merle sagt, dass auch das Gefühl von Einsamkeit eine Rolle gespielt hat. Sie hatte unter der Woche wenig Kontakt zu anderen Leuten: "Ich war die einzige Erasmus-Studentin an meiner Fakultät. Die anderen Leute, die ich kennengelernt habe, waren für andere Fächer im Ausland. Und die hatten einen ganz anderen Stundenplan."

Reden mit der Oma hat geholfen

Den sozialen Kontakt hat sie dann mit Familie und Freunden in der Heimat aufrechterhalten. Es gab viele Telefonate – vor allem mit ihrer Oma hat Merle viel gesprochen.

"Das war super. Mein Oma ist Rentnerin und mit ihr habe ich vormittags viel telefoniert."
Merle, studierte ein Semester in Belgien und litt stark unter Heimweh

Merle und ihre Oma haben sich auch Briefe geschrieben. Für Merle war das eine Art Ritual, das sich etabliert hat, weil sie dann auch immer zur Post gehen und die Briefe abholen konnte.

Merle erzählt, dass sie auch auf andere Leute aktiv zugegangen ist, die sie in ihrem Auslandssemester kennengelernt hat, um sich zu verabreden. Oft hat es zeitlich nicht gepasst. Merle hat diesen Personen dann aber trotzdem oft geschrieben, dass sie unterwegs ist – und zum Beispiel Waffeln im Café essen geht. "Dadurch, dass ich das anderen Leute geschrieben habe, habe ich mich mehr gezwungen gefühlt, die Sachen auch zu unternehmen. Und ich glaube, das hat auch ein bisschen geholfen, mich vom Heimweh abzulenken."

Schlechtes Gewissen Familie und Freunden gegenüber

Was Merle auch geholfen hat: ab und zu mal nach Hause fahren. Obwohl sich das für sie auf eine gewisse Art und Weise falsch angefühlt hat: "Ich habe mich ein bisschen geschämt, weil ich das Gefühl hatte, das macht man nicht – im Auslandssemester zwischendurch nach Hause fahren."

Dazu kommt: Zu Hause musste sie ihren Freunden und Familienangehörigen dann auch erzählen, dass ihr Auslandssemester nicht so verläuft, wie sie sich das vorgestellt hatte.

"Man hört immer, Erasmus ist die Zeit deines Lebens. Ganz viele Partys, Menschen, Ausflüge. Und dann ist es nicht so."
Merle, studierte ein Semester in Belgien und litt stark unter Heimweh

Merle war auch traurig, weil sie viel investiert hatte, um das Auslandssemester überhaupt machen zu können: "Ich bin arbeiten gegangen, ich habe Geld gespart. Ich habe von meiner Familie Geld bekommen. Es haben sich total viele Menschen Mühe gegeben und mir Abschiedsgeschenke gemacht." Deshalb hatte Merle ihrer Familie und ihren Freunden gegenüber dann auch ein schlechtes Gewissen.

Am Ende war es für Merle aber sehr hilfreich, über ihr Auslandssemester mit anderen zu sprechen, sagt sie. Denn oft hat sich herausgestellt, dass diese Leute ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Eine weitere positive Erfahrung, die Merle in ihrem Auslandssemester gemacht hat: Sie hat erkannt, dass sie auch alleine sein kann.

Heimweh hat auch positive Effekte

Auch Kulturwissenschaftlerin Simone Egger ist der Meinung, dass Heimweh eine Funktion hat. "Im Laufe eines Lebens ist es immer wieder wichtig oder Thema, dass man sich selber fragt: Wo gehöre ich hin oder dazu?" Einige Menschen müssten sich das vielleicht nicht fragen. Für Simone Egger ist diese Frage aber durchaus heilsam. Sie bringe Menschen nämlich dazu, Dinge oder Entscheidungen zu reflektieren, etwa mit Blick auf einen Jobwechsel. "Soll ich beruflich in eine andere Stadt wechseln oder nicht – oder will ich das gar nicht, weil das nicht mein Leben ist", erklärt Simone Egger.

"Dieses Heimweh zeigt mir vielleicht auch, in welche Richtung ich in meinem Leben gehen will."
Simone Egger, Kulturwissenschaftlerin

Es gibt viele Gründe dafür, wie Heimweh entsteht, sagt die Psychotherapeutin Angela Kundegraber-Leherb. "Grundsätzlich ist es meistens eine Reaktion auf die Trennung von geliebten Menschen, der gewohnten Umgebung, das Bekannte letztlich. Wenn ich an einen neuen Ort komme, dann ist das auch anstrengend. Ich kenne mich nicht aus. Ich weiß nicht, wo ich einkaufen gehe oder habe keine Ansprechperson." Die Psychotherapeutin beschreibt die Dinge, die wir kennen, als Anker, die uns Sicherheit geben.

Es gibt Menschen, die sagen, sie kennen das Gefühl von Heimweh gar nicht. Die Psychotherapeutin ist da allerdings skeptisch. Möglicherweise können solche Personen dieses Gefühl einfach nicht zuordnen, so Angela Kundegraber-Leherb. Oder es sei eher die Scham, sich das gefühlte Heimweh einzugestehen (nach dem Motto: Ich bin doch kein Kind mehr.)

Bestimmte Leute sind weniger anfällig für Heimweh

Es gibt der Psychotherapeutin zufolge aber auch Lebensumstände, die Leute weniger anfällig für Heimweh machen. "Wenn jemand viele Hobbys und Interessen hat, dann ist es einfacher, an einem neuen Ort Anschluss zu finden, als wenn jemand introvertiert ist und nicht so genau weiß, wie er sich ein soziales Netzwerk aufbauen kann."

"Natürlich ist es einfacher, wenn jemand extrovertiert ist und keine Probleme hat, neue Freundschaften zu schließen."
Angela Kundegraber-Leherb, Psychotherapeutin und Linguistin

Oft verspüren Personen den Drang, das Gefühl von Heimweh loszuwerden. Für die Psychotherapeutin ist es aber wichtig, zu ergründen, wo dieses Gefühl herkommt – und auch, es ein Stück weit anzunehmen.

In erster Linie sollten Personen überlegen, was sie tun können, um sich an einem neuen Ort einzuleben, so Angela Kundegraber-Leherb. Hilfreich sei es zum Beispiel, sich ein soziales Netzwerk aufzubauen, etwa über einen Sportverein. Neben solchen neuen Routinen sollten aber auch alte Routinen aufrechterhalten werden. Dazu kann es gehören, den Tee zu trinken, den man gerne zu Hause getrunken hat oder regelmäßig Besuche von Freunden und Familie aus der Heimat einzuplanen.

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Shownotes
Sehnsucht
Sind wir nicht zu alt für Heimweh?
vom 10. Februar 2025
Gesprächspartnerin: 
Merle, studierte ein Semester in Belgien und litt stark unter Heimweh
Gesprächspartnerin: 
Angela Kundegraber-Leherb, Psychotherapeutin und Linguistin
Gesprächspartnerin: 
Simone Egger, Kulturwissenschaftlerin
Autor und Host: 
Przemek Żuk
Redaktion: 
Friederike Seeger, Yevgeniya Shcherbakova, Clara Hoheisel, Lena Korbjun
Produktion: 
Ralf Perz