Sich kurz in der Straßenbahn umzuschauen genügt: Fast alle sind auf das Smartphone in ihrer Hand fixiert. Wie es Social-Media-Plattformen gelingt, uns zum stundenlangen Scrollen zu verführen und was wir dagegen tun können, weiß der Psychologe Christian Montag.

Oh, ein gesunde Alternative für Brownies? Ja, her mit dem Rezept! Und zwar mit roten Bohnen – unglaublich. Schnell das Reel abspeichern und zum nächsten scrollen, das uns in unserem Social-Media-Feed angezeigt wird. Und es ist ganz klar, dass wir uns weder das zuvor angesehene Reel noch einmal anschauen werden, geschweige denn jemals das Rezept selbst ausprobieren werden.

Nächstes Reel: Man kann Brownies auch mit Kürbis machen... Wahnsinn. Und noch eins: Oh, ein streuender Hundewelpe, der vor dem sicheren Tod von der Straße gerettet wird, wie rührend. Noch ein Reel: Ahh, man kann Plastik einfach aus Pflanzenresten herstellen und das sogar eigenhändig zu Hause machen – das gibt's doch nicht.

Ein Blick auf die Uhr verrät, eine Dreiviertelstunde ist bereits vergangenen, seitdem wir angefangen haben, durch unseren Feed zu scrollen. Die fertig gewaschene Wäsche steckt noch in der Waschmaschine und die Pflanzen sind auch noch nicht gegossen. Aber halt, als nächstes kommt ein wirklich spektakuläres Reel... und dann geht es mindestens noch eine halbe Stunde so weiter wie bisher.

"Wir haben eine riesen Industrie, die über viele Jahre Plattformen entwickelt hat, die versuchen, uns in jeder freien Minute da drauf zu bringen. Mittlerweile ist diese Verhalten bei den Nutzenden in Fleisch und Blut übergegangen."
Christian Montag, Professor für molekulare Psychologie

Es ist oft eine Push-Nachricht von einer Social-Media-Plattform, die die sogenannte Fear Of Missing Out (FOMO) erzeugt, sagt der Psychologe Christian Montag. Wir sehen eine Benachrichtigung darüber, welcher Account gerade ein Live-Video gestartet hat. Und sofort entsteht das ungute Gefühl, dass wir etwas verpassen könnten, so der Psychologe. Diesem Impuls folgend gehen wir auf die Social-Media-Plattform, die uns die Benachrichtigung geschickt hat.

Und dort ist der Algorithmus so gestaltet, dass er uns weitestgehend Posts zuspielt, die uns interessieren könnten, damit wir so viel Zeit wie möglich auf der Plattform verbringen, bevor wir uns wieder anderen Dingen zuwenden. Je mehr Zeit wir dort verbringen, desto relevanter ist die Plattform für Werbe- und Marketingformate, also für große Marken, die Produkte bewerben möchten. Denn Social-Media-Reichweite ist zu einem wichtigen Faktoren geworden, wenn es darum geht, bestimmte Zielgruppen zu erreichen.

Die ARD/ZDF-Onlinestudie 2023 hat festgestellt, dass 68 Prozent der 14 bis 29-Jährigen pro Tag rund 69 Minuten auf Social-Media-Plattformen verbringen, um Beiträge zu posten, zu liken oder zu teilen. Mit 43 Prozent ist der Anteil der 30 bis 49-Jährigen deutlich geringer, die wiederum rund 34 Minuten auf Social-Media-Plattformen aktiv sind. Instagram ist dabei die Nummer eins unter den genutzten Plattformen in Deutschland.

Unser Gehirn wird getriggert, um in einer andauernden Erwartungshaltung zu bleiben

Es muss aber noch nicht mal eine Push-Nachricht sein, die uns den Impuls gibt, um ins endlose Scrollen durch unseren Feed zu geraten, sagt der Psychologe Christian Montag. Manchmal reicht auch der Moment, wo niemand um uns herum ist. Sozusagen ein kurzer Moment der Langweile, der durch ein personalisiertes Angebot an Posts in unserem Feed, befriedigt werden kann.

Und wir nutzen die sozialen Medien nicht nur aus Langweile, sondern auch, um mit unserer Familien und unseren Freunden in Kontakt zu bleiben. Und wir nutzen Reels nicht nur, um Spaß zu haben, zu staunen oder Dinge zu lernen, sondern auch, um weltweit Nachrichten zu konsumieren.

Ein Anschlag, Nachrichten von einem Menschen, der in einem Kriegsgebiet ums Überleben kämpft oder eine Naturkatastrophe – viele von uns nutzen soziale Medien inzwischen auch, um auf dem Laufenden zu bleiben. Alles in allem, um Nachrichten zu konsumieren, die für uns relevant sind. Denn ohne die sozialen Medien wüsste rund die Hälfte der unter 30-Jährigen nicht mehr, was in der Welt geschieht. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass diese Gruppe, nur noch zu einem geringen Anteil klassische Nachrichtenmedien nutzt.

"Die Mechanismen sind den meisten bekannt: Wenn wir nicht auf den Plattformen drauf sind, wird über eine Push-Notification versucht, uns auf die Plattform draufzubringen."
Christian Montag, Professor für molekulare Psychologie

Displacement-Hypothese – Zeit für zentrale Entwicklungsaufgaben fehlt

Besonders jüngere Menschen, also zwischen 14 und 29 Jahren, nutzen soziale Medien sehr intensiv. Forschende diskutieren dieses Nutzungsverhalten im Zusammenhang mit der Displacement-Hypothese. Das heißt, je mehr Zeit ich in Social Media investiere, desto weniger bleibt, um zentrale Entwicklungsaufgaben in bestimmten Lebensabschnitten zu meistern, so fasst Christian Montag die wissenschaftliche Debatte zusammen.

Zwischen dem Schauen eines Kurzvideos und einer Serienfolge läge darin, dass wir uns bei den längeren Formaten viel stärker inhaltlich einlassen müssen, indem ich ein langes Narrative konsumiere, um eine komplexeren Geschichte zu folgen. Sobald ich dabei einen Smartphone (Second Screen) in der Hand halte, das gleichzeitig benutze, sei dieser Unterschied nichtig, weil wir dann von der Serie, die wir schauen, oft nicht mehr richtig folgen könnten, sagt Christian Montag. Nicht zuletzt gibt er auch Tipps, wir wir endloses Scrollen in den Griff bekommen können.

Tipps, um das Scrollen zu regulieren

  • über die Einstellungen Push-Notifcationen und Lesebestätigungen abschalten, damit man nicht ständig automatisch die Apps öffnet
  • soziale Medien eher über einen Laptop als über das Smartphone nutzen
Shownotes
Social Media
Warum wir so viel am Handy hängen – und wir es in den Griff bekommen
vom 11. Oktober 2024
Moderation: 
Diane Hielscher
Gesprächspartner: 
Christian Montag, Professor für molekulare Psychologe