Immer sonntags kommt es in Stotternheim, das ist in Thüringen, zu einem besonderen Ritual. Dann krempelt Rolf Plock seine Ärmel hoch, kniet sich hin und besorgt es einem Schwein. Dem Eber Balsam.
Anmerkung: Dieser Text ist die Grundlage für einen Radiobeitrag. Der beinhaltet Betonungen und Gefühle, die bei der reinen Lektüre nicht unbedingt rüberkommen. Darum lohnt es sich, auch das Audio zu diesem Text zu hören.
Balsam liegt auf der Seite und grunzt. Seine Augen sind grau-blau, seine struppigen Borsten rosafarben und schwarz. Mit seinen langen Wimpern blinzelt er ein bisschen verschlafen. Mit seiner feuchten, beweglichen Schnauze schnüffelt er die Umgebung ab wie ein Hund. Das ist der Moment, in dem Balsam kapiert: Die Menschen sind zurück. Wie jeden Sonntagabend.
Im Stall geht das Licht an. Müde Eber schubbern ihre struppigen Hintern an den Gitterstäben. Im Pausenraum der Eberstation röchelt eine Kaffeemaschine. Eine Packung Merci liegt auf dem Tisch. Neben Balsams Stall gibt es ein Labor. Hier sterilisieren Mitarbeiterinnen in weißen Kitteln und mit Haarnetzen, Becher, Mikroskope und Instrumente. Sie präparieren Kühlboxen. Sie fahren die computergesteuerte Spermaabfüllanlage hoch.
"Immer sonntagsabends, wenn viele Menschen in Deutschland Tatort gucken, wird Balsam nämlich einer runtergeholt."
Ich finde, es sieht ein bisschen aus wie in einer DDR-Großküche. Nur die Geräte passen nicht, sie sind neu und blitzeblank. Es riecht auch nicht nach Soßenbinder, sondern nach Sperma und Desinfektionsmittel. Immer sonntagsabends, wenn viele Menschen in Deutschland Tatort gucken, wird Balsam nämlich einer runtergeholt.
Rolf Plock ist Balsams "Absamer"
Balsam ist ein Zuchteber. Davon gibt es etwa 5.000 in Deutschland. Ziemlich wenig im Vergleich zu den 27 Millionen Schweinen, die in Deutschland für die Fleischherstellung gehalten werden. Balsam ist zwei Jahre alt und knapp 300 Kilogramm schwer. Als er bemerkt, dass Rolf Plock vor seinem Stall steht, wuchtet er sich aus dem Stroh und schnuppert an den Gitterstäben. Seine Hoden sind groß wie Handbälle.
Rolf Plock ist 64 Jahre alt und er arbeitet seit mehr als 30 Jahren in der Eberstation in Stotternheim. Angefangen hat er als Betriebshandwerker. Damals noch im Volkseigenen Betrieb der DDR. Eigentlich ist hier noch alles wie früher, sagt er. Nur heute gibt es mehr Technologie und weniger Personal.
Irgendwann hat er sich abgeschaut, wie das geht mit dem "Absamen aus der Hand". Das hat sich so ergeben, sagt Plock. Und dass er sich dran gewöhnt hat. Heute ist er der Stallleiter und Balsams persönlicher "Absamer".
Eber Balsam wird niemals Sex mit einer Sau haben
Balsam lebt hier seit Februar 2015. Er ist einer von 157 Zuchtebern in Stotternheim. Der offizielle Besitzer der Tiere ist die Besamungsunion Schwein, einer der größten Produzenten von Ebersperma in Deutschland. Im Katalog der Firma steht, Balsam ist ein "Spitzenvererber".
Jedes Jahr zeugt Balsam rund 24.000 Nachkommen. Indirekt, versteht sich. Sex mit einer Sau wird Balsam nie haben. Zusammen kommen die Stotternheimer Eber auf 3,8 Millionen Nachfahren. Pro Jahr. Und die landen alle irgendwann mal als Schnitzel, Salami oder Curry-Wurst auf unseren Tellern.
"Jedes Jahr zeugt Balsam rund 24.000 Nachkommen."
Balsam hingegen nicht. Er macht unser Essen. Dafür bekommt er regelmäßig die Hufe gefeilt und der Rücken geschrubbt. An besonders guten Tagen spritzt ihn Rolf Plock mit dem Wasserschlauch ab, das liebt Balsam. Er hat alle Impfungen, immer frisches Stroh, zweimal am Tag kriegt er eine Schippe Müsli in den Trog. Wenn er mal nicht aufisst, kommt ein Arzt und schaut nach, was los ist.
Den Stall verlassen darf Balsam jedoch nie. Den Himmel hat er maximal ein paar Sekunden in seinem Leben gesehen. In seine Nähe kommen nur desinfizierte und getestete Mitarbeiter. Darum hatte ich auch keinen direkten Kontakt Balsam. Ich durfte ihn nur durch eine Glasscheibe beobachten und Videos von ihm sehen. Selbst die Luft im Stall wird mit UV-Licht sterilisiert. Die Tiere sind hochgezüchtet. Und Darum ziemlich anfällig für Krankheiten.
Maschinen schaffen es nicht, Schweine zum Orgasmus zu bringen
Dafür holt ihm Rolf Plock zweimal die Woche einen runter. Ich denke mal, dass Balsam Spaß daran hat. Der Orgasmus eines Schweines dauert bis zu 20 Minuten. Innerhalb dieser 20 Minuten produziert der Eber bis zu einem Liter Ejakulat.
Zum Vergleich: Bei Schafböcken dauert das nur ein paar Sekunden. Sie sind Scharfschützen, wenn es um Fortpflanzung geht. Schweinesex dagegen ist fast schon eine Art Tantra.
Schweinen muss Sex Spaß machen. Zumindest den Ebern muss es Spaß machen. Ein Eberpenis hat eine Spitze, die wie ein Korkenzieher eingedreht ist. Damit würde sich Balsam normalerweise beim Sex praktisch in die Gebärmutter der Sau reinschrauben. Und die Gebärmutter der Sau würde mit pulsartigen Kontraktionen Balsams Penis stimulieren.
"Der Orgasmus eines Schweines dauert bis zu 20 Minuten. Innerhalb dieser 20 Minuten produziert der Eber bis zu einem Liter Ejakulat."
Rolf Plock sorgt dafür, dass Balsam seinen Spaß hat. Balsam merkt zum Beispiel auch sofort, wenn Rolf Plock mal schlecht drauf ist. Der Eber riecht das, sagt er. Und wenn Rolf Plock im Urlaub ist, dann kümmert sich ein anderer Absamer um Balsam.
Manchmal hat Balsam dann keine Lust. Darum haben Absamer wie Rolf Plock viel Geduld mit den Tieren. Sie reden ihnen gut zu. So nach dem Motto: „Komm, mach deine Arbeit“, Den Rücken kraulen hilft wohl auch.
Ein Darkroom für Schweine
Wenn Rolf Plock über Balsam redet, dann hab ich das Gefühl, er könnte auch von einem Menschen sprechen. Balsam sei ruhig und freundlich, sagt er. Andere Eber seien aufbrausender. Als Plock das Gitter zu Balsams "Wohnung" öffnet, galoppiert der Eber sofort raus. Er kennt den Weg schon. Es wirkt wie der Einlauf eines Boxers in die Arena.
Er hat Schaum vorm Maul und grunzt, als er an einem anderen Eber vorbeikommt. Sachte schlägt Rolf Plock ihm mit einem Stock auf den Arsch, um ihn anzutreiben.
Beim Laufen wackelt Balsam mit dem Arsch wie ein Gelenkbus. Der Eber soll nun rein in die Wartebucht. Das ist so ne Art Dark Room für Schweine.
"Und weil Schweine kurzsichtig sind, ist es egal, ob das, was da rund ist, jetzt der Hintern eines Ebers oder einer Sau oder irgendwas anderes Rundes ist. Man nennt das den Torbogenreflex. Man sollte sich darum vor einem Eber auch nicht bücken."
Drei Eber stehen da schon in der Reihe, getrennt durch Gitterstäbe. Die Wartebucht ist so konstruiert, dass die Eber immer ihrem Vordermann auf den Arsch starren müssen. Das gehört zum Vorspiel.
Die runde Form löst etwas im Gehirn der Tiere aus. Sie produzieren mehr Testosteron. Das macht sie geil. Dadurch auch der weiße Schaum vor dem Maul des Ebers, der jetzt schon auf den Betonboden sabbert.
Und weil Schweine kurzsichtig sind, ist es egal, ob das, was da rund ist, jetzt der Hintern eines Ebers oder einer Sau oder irgendwas anderes Rundes ist. Man nennt das den Torbogenreflex. Man sollte sich darum vor einem Eber auch nicht bücken.
"Dem Eber ist – wie gesagt – relativ egal, was für ein Arsch da vor ihm steht."
Als Balsam an der Reihe ist, schlendert er gemächlich von der Wartebucht in die Sprungbucht. Es sieht fast aus wie ein Tanz. Die letzten Meter vor dem Akt. In der Sprungbucht steht eine Sau-Attrappe. Sie sieht aus wie ein Sprungbock aus dem Sportunterricht, nur mit abgesägten Beinen.
Früher hat man versucht, die Attrappen mit Fellen mehr wie echte Sauen aussehen zu lassen. Irgendwann hat man aber festgestellt, dass das keinen großen Unterschied macht. Dem Eber ist – wie gesagt – relativ egal, was für ein Arsch da vor ihm steht.
"Balsam lehnt mit den Vorderläufen auf dem Dummy und schnauft. Es sieht aus, als würde er gemolken. Man braucht starke Unterarme für diesen Job."
Balsam rempelt dem frisch desinfizierten Dummy ein bisschen in die Seiten und verschmiert dabei den weißen Schaum, der sich um sein Maul herum gebildet hat. Dadurch werden bei echten Sauen Kontraktionen der Gebärmutter ausgelöst. Dann springt Balsam auf den Bock.
Rolf Plock fängt an, den Penis des Ebers mit leichten Schraubbewegungen zu stimulieren. Mal schraubt er, mal drückt er fester, mal sanfter. So kriegt das keine Maschine hin, sagt er. Der kommt dann auch sofort, Plock fängt das Sperma in einem großen Plastikkrug auf.
Balsam lehnt mit den Vorderläufen auf dem Dummy und schnauft. Es sieht aus, als würde er gemolken. Man braucht starke Unterarme für diesen Job. Rolf Plock schraubt und schraubt und schraubt und der Krug füllt sich, und Balsams wache Augen schauen immer milchiger in die Gegend. Als er fertig ist, steigt Balsam vom Bock und schwankt zurück in seinen Stall.
Bis zu 25 Tuben Sperma pro Schicht
Danach wird sein Sperma gewogen, verdünnt und in Tuben abgefüllt. Zwischen 20 und 25 Tuben schafft Balsam pro Schicht. Pro Tube Balsam zahlen Züchter rund 5 Euro. Jedes Mal, wenn Balsam kommt, macht die Eberstation also um die 300 Euro Umsatz.
Nach getaner Arbeit gibt es für Balsam in seiner Wohnung nochmal eine Schippe Futter in den Trog. Anderthalb Kilogramm einer Mischung aus Weizen, Gerste und Soja, die er in einem Rutsch auffrisst. Dann gehen im Stall die Lichter aus. Und Balsam grunzt weg.
"Pro Tube Balsam zahlen Züchter rund 5 Euro. Jedes Mal, wenn Balsam kommt, macht die Eberstation also um die 300 Euro Umsatz."
Montagmittag schaut Plock dann nochmal bei Balsam vorbei. Er mistet aus und packt frisches Stroh in die Box. Balsam erkennt seinen Absamer sofort. Der guckt einen an, wie ein Mensch, sagt Plock. Mit dem Besen kehrt er dem Eber den juckenden Rücken ab.
Das begehrte Sperma des Spitzenvererbers Balsam ist da schon längst unterwegs. Spezialkuriere liefern es frisch an Zuchtbetriebe in ganz Deutschland aus.
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