Ende des 19. Jahrhunderts entstehen die ersten russischen Fußballklubs in Städten wie St. Petersburg. Dort ist die Fußballbegeisterung ungebrochen hoch, berichtet Martin Brand, der Co-Autor des Lesebuchs "Ruskij Futbol".
Das sportliche Großereignis Fußballweltmeisterschaft ruft in der russischen Bevölkerung verschiedene Reaktionen hervor: Begeisterung, Gleichgültigkeit Proteste. Russland ist keine Fußballnation und eine offiziell eingerichtete Fan-Zone für Public Viewing vor der Moskauer Universität stößt statt auf Begeisterung bei den Studenten auf Proteste, erzählt Martin Brand. Einer der Studenten hat wohl aus Ärger ein Plakat mit "Keine Fifa Fan-Zone" überschrieben. Jetzt wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet, sagt Martin.
Martin hat mit Stephan Felsberg und Tim Köhler das Buch "Russkij Futbol" geschrieben. Es ist ein Lesebuch über die Geschichte des russischen Fußballs mit elf Biografien aus über 100 Jahren. Darunter auch die Galionsfigur des russischen Fußballs, der Torwart Lew Jaschin, der das offizielle Plakat der Fifa WM 2018 ziert.
Martin hat es nach dem Abitur nach Russland gezogen. Seinen Zivildienst hat er in Nishnij Nowgorod gemacht. Danach hat er in Berlin angefangen, Politik zu studieren und immer wieder zu bestimmten Themen in Russland recherchiert – unter anderem auch Fußballgeschichten. Inzwischen ist Martin Politikwissenschaftler an der Uni Bremen. Parallel ist er immer wieder beispielsweise als Reiseleiter von Studienreisen eng mit Russland verbunden geblieben.
"Russland hat durchaus eine sehr lange Fußballtradition."
Die russische Fußballgeschichte beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, sagt Martin. In Petersburg sind die ersten Mannschaften entstanden. Das Fußballfieber hat sich dann über die großen Städte weiterverbreitet.
Wahrgenommen wird Russland heute eher als Eishockey-Nation, dabei sei dieser Sport erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach Russland gekommen, sagt Martin. Allerdings ist dann die russische Nationalmannschaft im Eishockey sehr schnell sehr erfolgreich gewesen. Zumindest hat es die russische Fußballnationalmannschaft 1960 geschafft, die Europameisterschaft zu gewinnen und 2008 das Halbfinale zu erreichen.
Russen glauben nicht an Erfolg der Nationalelf
Die beiden Fußballklubs ZSKA Moskau (2005) und Zenit St. Petersburg (2008) haben den UEFA-Cup geholt. Doch seitdem sind die Erfolge ausgeblieben, und deshalb ist auch die Fußballbegeisterung in der Bevölkerung zurückgegangen, erklärt Martin. Im Vorfeld der WM gebe es einige Stimmen in Russland, die sich über die russische Mannschaft lustig machten oder sich sorgten: "Es herrscht doch große Skepsis, ob das überhaupt etwas wird", sagt Martin.
In St. Petersburg ist die Begeisterung für Fußball nach wie vor groß. Dort ist 2017 das neue WM-Stadion eröffnet worden, "seitdem laufen dort die Zuschauer in Massen hin", berichtet Martin. "Wir haben einen Zuschauerschnitt von 44.000 in der vergangenen Saison gehabt." Bei Spartak waren es noch gut 30.000 Zuschauer im Schnitt und selbst bei FK Krasnodar sind noch 20.000 bis 25.000 Zuschauer im Schnitt ins Stadion geströmt. "Das sind aber auch die drei Top-Klubs, was die Zuschauerzahlen angeht", fasst Martin zusammen. Bei den anderen restlichen Klubs der 1. Liga kommen im Schnitt 3000 bis 4000 Zuschauer.
Russland fördert Fußballclubs
"Die wichtigste Finanzierungsquelle der Klubs sind Sponsoren", sagt Martin. Der Ticketverkauf oder die Lizenzvergabe für Übertragungsrechte spielen bei den russischen Klubs eine untergeordnete Rolle. Zu einem der wichtigsten Sponsoren gehört der russische Staat. Zum Beispiel sponsert Gazprom Zenit St. Petersburg. Gazprom gehört zu 50 Prozent dem russischen Staat. Daneben gibt es noch andere staatliche Unternehmen oder Unternehmen, die mehrheitlich im Besitz des Staates sind, wie die russischen Eisenbahnen, Stromkonzerne, Fluggesellschaften, die Klubs unterstützen.
"Gazprom pumpt massiv Geld in Zenit St. Petersburg hinein, deshalb ist das auch mit Abstand der reichste Club im russischen Fußball."
Die staatliche Förderung der Fußballklubs hat lange Tradition in Russland. So waren Lokomotive Moskau oder Dynamo Moskau an Betriebe angeschlossen oder im Falle von Dynamo auch an die Geheimdienst- oder Sicherheitskräftestrukturen. 1936 ist die sowjetische Liga eingerichtet worden, und in dieser Zeit entstand die Rivalität zwischen Dynamo Moskau und Spartak Moskau, erzählt Martin. Dynamo stand unter der Obhut des Geheimdienstes, während Spartak keinem konkreten Betrieb zugeordnet war. Die Rivalität führte sogar soweit, dass gegnerische Spieler ins Gulag wanderten, sagt Martin.
Gewaltbereite russische Hooligan-Szene mischt sich mit rassistischen Bewegungen
Die gewaltbereite russische Hooligan-Szene ist nicht erst bei der WM 2014 in Frankreich auffällig geworden, sagt Martin. Er selbst hatte 2002 das Glück, dass er das Public Viewing auf dem Manegeplatz in Moskau, wo das Spiel Russland gegen Japan gezeigt wurde, frühzeitig verlassen hatte. Russland verlor das Spiel und im Anschluss "haben russische Hooligans die Moskauer Innenstadt auseinandergenommen". Dabei kam es zu einem Todesfall, erzählt Martin.
Lange Tradition der Ausschreitungen
2010 kam es zu Ausschreitungen in Moskau, nachdem ein Spartak-Fan von einer Gruppe Kaukasier ermordet wurde. Dabei mischte sich die Hooligan-Szene mit fremdenfeindlichen, rassistischen Bewegungen. 2012 kam es in Warschau zu Straßenschlachten mit polnischen Hooligans. "Oder vor ein paar Wochen erst, als Spartak Moskau in Bilbao gespielt hat, gab es ebenfalls Krawalle. Dabei ist ein spanischer Polizist ums Leben gekommen", berichtet Martin.
Die Gewaltbereitschaft zieht sich durch die russische Hooligan-Szene, aber nicht jeder russische Fan ist ein Hooligan und gewaltbereit, betont Martin. Er rechnet nicht damit, dass es gewaltbereiten Hooligans gelingen wird, die WM zu stören, weil der Staat Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat. Innerhalb der Fan-Szene gibt es auch Initiativen wie die ZSKA-Fans gegen Rassismus, die versuchen, gegen die gewaltbereite Szene Zeichen zu setzen, indem sie beispielsweise Fans ausländischer gegnerischer Mannschaften empfangen und deren Aufenthalt in Moskau angenehm gestalten wollen, erzählt Martin.
Russische Imagepflege durch Sportereignisse missglückt
Jedes Land will mit einem sportlichen Großereignis wie der Fußballweltmeisterschaft sein Image pflegen. "Bei Russland ist das schief gegangen", sagt Martin. Russland hat die Dekade des Sports ausgerufen, die 2013 mit Universaden begann, den Weltmeisterschaften von Studenten, dann die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi, Weltmeisterschaften im Wintersportbereich und jetzt die Fußballweltmeisterschaft 2018 als der große Höhepunkt zum Abschluss der Dekade.
"Das Ansehen Russlands in der Welt hat sich dramatisch verschlechtert – zumindest in der westlichen Welt."
Dennoch hat sich in den vergangenen fünf Jahren das Ansehen Russlands in der Welt dramatisch verschlechtert – durch die Außenpolitik, die Annexion der Krim, den Krieg in der Ukraine, den Abschuss des Flugzeugs MH17, Russlands Rolle im Syrien-Krieg.
Fußballweltmeisterschaft bringt Investitionen in die Städte
"Innenpolitisch hat die Weltmeisterschaft die Aufgabe, das Land zu modernisieren", sagt Martin. Ausbau von Verkehrsinfrastruktur, Bahn und öffentlicher Nahverkehr in den WM-Städten, der Bau oder die Modernisierung von Stadien, Hotels. Das hilft dem politischen Regime, der Bevölkerung zu zeigen, dass man in der Lage ist, "die Welt zu Gast nach Russland zu holen". Das lässt sich Russland auch rund zehn Milliarden Euro kosten.
Ob diese Investitionen immer sinnvoll sind, ist fraglich. Beispielsweise hält Martin die Fußballstadien in der Provinz für überdimensioniert und sie werden ein ähnliches Schicksal wie die Stadien beispielsweise in Brasilien oder Südafrika erleiden – sie werden nicht genutzt.
Das Buch:
"Ruskij Futbol". Ein Lesebuch, von Martin Brand, Stephan Felsberg und Tim Köhler, erschienen im Verlag Die Werkstatt, 2018, 224 Seiten, 16,90 Euro.
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