Die starke Zunahme der Migration in den vergangenen Jahren stellt uns vor große Herausforderungen. Deutschland ist in vielen Fragen gespalten: Welche Pflichten haben wir gegenüber Zuwanderern? Welche Pflichten haben sie gegenüber uns? Und: Brauchen wir eine Obergrenze für die Aufnahme von Migranten? Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel fordert im Hörsaal die Bestimmung einer solchen Grenze und argumentiert dafür unter anderem mit Religion und dem Recht auf den Erhalt einer nationalen kulturellen Identität.
Wir haben die Pflicht, Zuwanderer aufzunehmen - sagt der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Dafür gebe es aber Bedingungen und Grenzen. Um die zu bestimmen, analysiert er zunächst die moralischen Grundlagen der Flüchtlingspolitik: Warum und wann haben wir die moralische Pflicht, Zuwanderer aufzunehmen? Reinhard Merkel unterscheidet dafür vier normative Grundlagen, die er im Vortrag näher ausführt und abwägt:
- die Pflicht, die Freiheitsrechte der Migranten zu achten
- die allgemeine ethische Grundpflicht, Menschen in Not zu helfen
- die Pflicht zur Wiedergutmachung historischen Unrechts, also das Prinzip globaler ausgleichender Gerechtigkeit
- das Prinzip globaler territorialer Gerechtigkeit
Um entscheiden zu können, ob und in welchem Maß sich daraus für uns eine Pflicht zur Aufnahme von Geflüchteten ableiten lässt, müssen wir laut Reinhard Merkel bestimmte Typen von Zuwanderern unterscheiden, und zwar nach den Gründen für ihre Migration.
Politisch Verfolgte: ja, Wirtschaftsflüchtlinge: nein
Aus diesen beiden Analyseschritten folgert Reinhard Merkel im Vortrag dann unter anderem, dass wir keine Zuwanderer aufnehmen müssten, die aus rein ökonomischen Gründen zu uns kommen. Allein politisch verfolgte Flüchtlinge hätten dieses Recht, Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ebenso - allerdings zeitlich auf die Dauer des Konflikts in ihrer Heimat begrenzt. Das gleiche gelte für die zukünftigen Klimaflüchtlinge.
"Die große Mehrzahl der Migranten der letzten Jahre dürfte keinen rechtlichen Anspruch auf dauerhafte Bleibe in Deutschland haben."
In jedem Fall stehen uns noch weitere große Migrationsbewegungen bevor, prophezeit der Rechtsphilosoph, und wir werden noch viele Zuwanderer aufnehmen müssen. Dadurch würden wir in jedem Fall einen kulturellen Wandel erleben, und für einige in diesem Land werde das sicher eine "Zumutung" sein.
"Unsere gesellschaftliche Elite sollte ihre kosmopolitische Blauäugigkeit, Zuwanderung ausschließlich als Chance und Gewinn zu sehen, aufgeben."
Wir sind, so Reinhard Merkel in seinem Vortrag, moralisch dazu verpflichtet, diese Zumutungen auf uns zu nehmen – allerdings nur bis zu einem gewissen Maß. Er trägt verschiedene Gründe vor, die unsere Aufnahmepflicht quantitativ begrenzen können – ökonomische, wie zum Beispiel knappe finanzielle Ressourcen, aber auch mentale, wie Probleme bei der zivilgesellschaftlichen Integration.
Recht auf Erhalt einer nationalen kulturellen Identität
Die Einheimischen eines Landes, so Reinhard Merkels These, haben ein gewisses Recht auf die Sozialverträglichkeit des kulturellen Wandels im Hinblick auf den Schutz ihrer nationalen Kultur, Identität und Lebensform. Die Achtung der kulturellen Identität sei auch im Völkerrecht verankert.
Islamische Migration als Bedrohung
Zwar betont Reinhard Merkel, dass Zuwanderer nicht allein wegen ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft abgewiesen werden dürfen, und dass es nicht den einen Islam gebe. Gleichzeitig warnt er aber vor einer zu starken Zuwanderung von Muslimen. Denn die hingen meist, so urteilt er mit Verweis auf eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin, konservativen Strömungen des Islam an, deren Integrationsfähigkeit und –willigkeit er bezweifelt.
"Ich gehöre überhaupt nicht in die Nähe solcher Leute wie AfD oder Pegida."
Reinhard Merkel ist sich sehr bewusst, dass er mit solchen islamkritischen Aussagen im rechten Spektrum verortet werden könnte - obwohl er ein SPD-Parteibuch hat und sich selbst als linksliberal bezeichnet. Er gehe dieses Risiko ein, weil er es für wichtig halte, dass die Probleme, die er ausmacht, offen angesprochen werden. Und zwar nicht von Menschen, das betont er, die per se etwas gegen Fremde haben, sondern von Menschen, die ihre Ansichten durch Beschäftigung mit dem Thema gewinnen und sachlich argumentieren.
Reinhard Merkel ist emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, Mitglied des deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Sein Vortrag "Deutsche Identität im Schatten der Flüchtlingskrise" wurde am 31.05.2018 aufgezeichnet.
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