In den sogenannten Baseballschlägerjahren der 1990er-Jahre übernahmen rechte Mobs teilweise die Kontrolle auf Ostdeutschlands Straßen. Der Historiker Patrick Wagner erklärt in seinem Vortrag, warum es damals zu einer Erosion des staatlichen Gewaltmonopols kam.
Unter #Baseballschlägerjahre sammeln Betroffene ihre Geschichten von rechter Gewalt in den 1990er-Jahren. Mittlerweile gibt es umfangreiche Forschung zu den Tätern dieser Zeit – und neuerdings auch zu den Opfern, sagt Patrick Wagner. Er ist Historiker an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
In seinem Vortrag schaut er auf eine bisher kaum beachtete Komponente: die ostdeutsche Polizei nach der Wiedervereinigung.
"Das Zurückweichen der Polizei vor dem rechten Mob in Rostock richtete ein Spotlight auf die Handlungsmuster der staatlichen Organe während der 1990er Jahre."
Die Polizei in Ostdeutschland war in den frühen 1990er-Jahren mit der ganzen Wucht der gesellschaftlichen Transformationskrise konfrontiert, sagt Patrick Wagner. Zudem mussten sich im Osten Polizisten an neue Vorgesetzte aus dem Westen und an eine neue Polizeikultur gewöhnen. Das habe viele verunsichert, so der Historiker.
"Bedroht, verdrängt, verletzt und mitunter getötet – neben nicht rechten Jugendlichen, Obdachlosen und behinderten Menschen traf es vor allem erkennbar 'Fremde'."
In den Augen der Bevölkerung sei die Polizei ihren Aufgaben nicht gerecht geworden. Bürgerwehren und rechte Mobs hätten für sich beansprucht, den öffentlichen Raum zu kontrollieren.
Rechte Gewalt in den 1990ern auch im Westen
Rechte Gewalt in den 1990er-Jahren ist keine ostdeutsche Besonderheit, sagt Patrick Wagner. Im Westen hätte jedoch eine "Hit and Run-Gewalt" kleiner Gruppen aus dem Verborgenen dominiert, während in Ostdeutschland "immer wieder Gruppen von Gewalttätern selbstbewusst die Kontrolle des öffentlichen Raums beanspruchten und ihre Taten – demonstrativ in Anwesenheit unterstützender Teile der lokalen Bevölkerung – verübten", so der Historiker.
"Die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster in ostdeutschen Polizeidienststellen der neunziger Jahre führten dazu, dass Menschen aus Afrika, aus Vietnam oder Roma geringere Chancen auf den Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit durch die Polizei hatten als andere Menschen."
Patrick Wagner ist Professor für Zeitgeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seinen Vortrag "Als der Staat sein Gewaltmonopol preisgab. Polizei und rechte Straßenmobs in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft der 1990er-Jahre" hielt er am 2. November 2023 im Rahmen der Vortragsreihe "Mehr als eine Randnotiz. Die extreme Rechte in der deutschen Gesellschaft nach 1945" der Forschungsstelle für Zeitgeschichte (FZH) an der Uni Hamburg.
Hörtipp: Im Hörsaal vom 23. November geht es um Rechtsextremismus und die Reichsbürgerbewegung.