Gefühle wie Groll, Scham oder Zorn anzusprechen, ist für Therapierende eine Gratwanderung. Denn dadurch könnten diese Gefühle erneut ausgelöst und auf die Therapierenden projiziert werden, erklärt der Psychoanalytiker Heinz Weiß in seinem Vortrag.
Heinz Weiß ist Psychoanalytiker für schwere und komplexe Persönlichkeitsstörungen. In seinem Vortrag legt er offen, dass – wer als Therapeut in der Therapie Groll offen anspreche – selbst Gefahr laufe, genau diesen auszulösen.
Nur um Schuldgefühle zu vermeiden
Groll hegt meist, wer früh und stark verletzt worden ist, so der Analytiker. Der oder die Betroffene halte an dieser "Wunde" fest und projiziere solcherart Verletzungen auch auf den Behandelnden. Weder eine Konfrontation mit dem Thema noch ein Rückzug sei für die Therapeutin oder den Therapeuten eine Lösung. Beides führe in Sackgassen. Allein das Erkennen von Groll sei mitunter schon schwierig.
"Es ist schwierig, Groll zu deuten. Denken Sie etwa an die Patienten, die sich über Mobbing beklagen."
Ähnliches zeigt sich bei Schamgefühlen, so Heinz Weiß: Der oder die Schämende sehe sich einem Beobachter gegenüber und reagiere mit einem bedrückenden und peinlichen sogenannten Affektzustand. Sprechen Therapeut oder Therapeutin diesen Gefühlszustand an, schlüpfe die Person automatisch in die Beobachterrolle, was wiederum Scham auslöse.
"Es ist fast unmöglich, Scham anzusprechen, ohne erneut Beschämung hervorzurufen."
Zorn ist die "Rache der Götter" und ein Attribut der Heiligen, erklärt der Psychoanalytiker. Zorn schlage wie ein Blitz ein und sei von zerstörerischer Gewalt. Genau das wollten zornige Menschen auch erzeugen, weil sie Zorn sozusagen als göttlich und gerecht empfinden. Ungerecht hingegen fänden sie oft, wie andere sie behandeln.
"Es ist auch heikel, Zorn aufzugreifen, ohne erneut Zorn und Verachtung auszulösen."
Gemeinsam ist Groll, Scham und Zorn: Auf unterschiedliche Weise sorgen sie dafür, Schuldgefühle zu vermeiden.
Heinz Weiß forscht und lehrt am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main und ist Chefarzt am Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart. Seinen Vortrag "Sehen und Gesehenwerden – Zur Beziehung von Groll, Scham und Zorn zum Erleben von Schuld" hat er im Rahmen des wissenschaftlichen Symposiums "Schuld und Scham" gehalten, das die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe veranstaltet hat. Es fand am 8. und 9. November 2019 am Ruhr-Universitätsklinikum Bochum statt.
Ebenfalls von diesem Symposium stammt der Vortrag "Erleben von Schuld und Scham bei Patienten mit Krebserkrankung" von Iris Magdalena Sossalla.