Wie macht sich unser Gehirn ein Bild von der Welt? Und was ist bei diesem Prozess gestört, wenn wir Wahnvorstellungen haben? Das erklärt der Psychiater Philipp Sterzer in seinem Vortrag – und außerdem, wie Verschwörungserzählungen und Wahn zusammenhängen.
Wahn ist eine feste Überzeugung über die Wirklichkeit, die auch im Lichte gegensätzlicher Evidenz keiner Änderung zugänglich ist, sagt Philipp Sterzer. Der Psychiater und Neurowissenschaftler von der Uni Basel erklärt in seinem Vortrag, warum die meisten Menschen in irgendeiner Form irrationale Überzeugungen haben, die als wahnhaft gelten könnten.
"Die meisten Menschen haben insgeheim seltsame Überzeugungen, die von Psychiatern als wahnhaft diagnostiziert werden könnten."
Es ist ein Irrtum, dass es eine objektive Welt gibt, die irgendwie in einen Kopf hineinprojiziert wird, sagt Philipp Sterzer. Das Bild der Welt in unserem Kopf entstehe durch einen Abgleich von Vorhersage und Sinnesdaten.
Was unsere Sinne an unser Gehirn senden, ist nur ein Teil, das Gehirn greift zudem auf vorheriges Wissen zurück und kreiert aus beidem zusammen ein Bild der Welt um uns herum, erklärt der Wissenschaftler in seinem Vortrag. Dieser Prozess erfolgt unbewusst und heißt Inferenz.
Meistens hält unser Gehirn eine Balance aus vorherigem Wissen und neuen Infos. Zum Beispiel melden die Augen, "da steht ein schwarzes Auto auf dem Parkplatz." Dann ergänzt das Erfahrungswissen, "das ist halt ein Parkplatz, da gibt es Autos, kein Grund zur Beunruhigung."
"Studien zeigen, es gibt einen Zusammenhang zwischen einem paranoiden Denkstil und der Neigung, an Verschwörungserzählungen zu glauben."
Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Psychosen entstehen, wenn der Interferenzprozess aus der Balance gerät, so der Psychiater. Nämlich dann, wenn die sensorischen Daten zu stark gewichtet würden und das Erfahrungswissen zu wenig. Menschen, die an einer Psychose erkrankt sind, sehen die Welt also eigentlich wirklicher als gesunde Menschen.
Aber wie entsteht daraus ein Wahn? Wenn sensorische Reize stärker gewichtet werden, dann werden sie auch als auffälliger interpretiert, erklärt Philipp Sterzer. Ein schwarzes Auto, das auf einem Parkplatz steht, sei plötzlich auffällig. Weil wir ein kohärentes Bild der Welt brauchen, finden Menschen mit Psychosen dann Erklärungen – zum Beispiel für das schwarze Auto, – die noch weiter von der Welt abweichen, so der Psychiater weiter.
Verschwörungserzählungen ähneln Wahnvorstellungen
Studien belegen eine Korrelation zwischen einer Neigung zu Wahnvorstellungen und Verschwörungsglauben, sagt Philipp Sterzer. Außerdem ließe sich zeigen, dass beide durch Stress ausgelöst werden können. Denn in Stresssituationen gewichte unser Gehirn automatisch die Sinnesdaten stärker als das Erfahrungswissen.
Zum Beispiel zeigten Studien über Reichsbürger, dass diese häufig durch negative Lebensereignisse gezeichnet seien. Einfache Erklärungen wirkten da entlastend. Und wenn man eine Verschwörungserzählung erstmal angenommen habe, sei es mit großen Kosten verbunden, diese wieder aufzugeben.
"Von einer einmal gefassten Überzeugung, wie irrational sie auch sein mag, wieder abzukehren, ist psychologisch betrachtet sehr kostspielig."
Philipp Sterzer ist Neurowissenschaftler und Psychiater an der Universität Basel. Seinen Vortrag "Wahn oder Wirklichkeit? – Wie das Bild der Welt in unseren Köpfen entsteht“ hat er am 22. Juni 2023 im Rahmen des Colloquium Fundamentale "Was ist Wahrheit? Annäherung an ein umstrittenes Konzept" am Karlsruher Institut für Technologie gehalten.