"Ich als alter weißer Mann..." - diese Aussage signalisiert: Ich bin auf der Höhe der Zeit, ich kenne die gängigen Diskurse. Aber als ritualisierte Beichte bringt diese Erkenntnis gar nichts, meint der Erziehungswissenschaftler Markus Rieger-Ladich.
"Check your privilege!", diese Aufforderung hat in den vergangenen Jahren Karriere gemacht. Privilegiert zu sein wird in diesem Zusammenhang als beträchtlicher Makel wahrgenommen, meint Markus Rieger-Ladich. Gleichzeitig habe diese Form der Privilegienkritik die selbige entwertet, sie habe durch diese modische Konjunktur an Biss verloren.
"Die Kritik an Privilegien ist in eine heftige Krise geraten. Sie steht in der Gefahr, ihre politische Brisanz einzubüßen."
Dabei, so Rieger-Ladich, waren Privilegien in vormodernen Gesellschaften mal eine richtig gute Idee. Ab dem 13. Jahrhunderten waren diese Vorrechte eine mögliche Antwort auf den Bedarf an gesellschaftlicher Steuerung. Mittels der Vergabe von Sonderrechten durch den Privilegiengeber und den daraus resultierenden Vorteilen für den Privilegiennehmer konnten Konflikte entschärft und Fragen des Eigentums geklärt werden.
"Uns ist bewusst, dass wir die einzigen Menschen sind, denen wir wichtig genug sind, um beständig für unsere Befreiung zu kämpfen."
In den 1960er und 1970er-Jahren entdecken Soziologen wie Pierre Bourdieu den Begriff für sich. Zum dezidierten Kampfbegriff aber wird die Privilegienkritik laut Rieger-Ladich erst Mitte der 1970er-Jahre, als in Boston eine Gruppe schwarzer lesbischer Feministinnen sich zum Combahee River Collective zusammenschließt und im April 1977 ihr politisches Manifest vorstellt, das Black Feminist Statement.
Startpunkt emanzipatorischer Identitätspolitik
Die schwarzen Frauen und Lesben stellten fest: Wir werden doppelt diskriminiert durch rassistische und patriarchale Strukturen. Und: Wir können weder bei schwarzen Männern noch bei weißen Feministinnen auf Solidarität hoffen. Für Markus Rieger-Ladich stellt das den Beginn emanzipatorischer Identitätspolitik dar.
Die weiße Sozialwissenschaftlerin Peggy McIntosh lehnt es Mitte der 1980er Jahre für sich zunächst ab, in irgendeiner Weise rassistisch zu diskriminieren oder von rassistischen Strukturen bevorteilt zu werden. Dennoch beschäftigt sie sich nach Lektüre des Manifests eingehender mit der Frage von Privilegien - und stellt fest: Auch ich genieße die – bislang unbemerkt.
"Mir wurde zum ersten Mal klar, dass ich in einem weißen Wissenssystem lebte - und davon profitierte."
Peggy McIntosh vergleicht diese Privilegien mit einem unsichtbaren Rucksack, der angefüllt ist mit Vorrechten und Annehmlichkeiten wie Versicherungen, Päsen, Wörterbüchern und Landkarten.
Sie fordert, Privilegienkritik nicht entlang von Individuen zu denken und zu üben, sie nicht moralisch aufzuladen, sondern "die Frage nach den Strukturen kapitalistischer Gesellschaften aufzuwerfen".
"Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie."
Markus Rieger-Ladich plädiert in diesem Sinne für einen Neustart der Privilegienkritik. Diese habe in den vergangenen Jahren zunehmend die Formen von Beichte, Ritual oder Tribunal angenommen. Sie bleibe als Insiderdiskurs folgenlos für gesellschaftliche Strukturen. Dabei habe das Bundesverfassungsgericht schon 1975 die Notwendigkeit, Privilegien zu bekämpfen, konstatiert. Nehme man den Begriff ernst, könne er gesellschaftspolitische Wirkung entfalten.
Markus Rieger-Ladich ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. 2022 erschien sein Band "Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument".
Seinen Vortrag mit dem Titel "Was heißt hier Privileg? - Privilegienkritik neu gedacht" hat er auf Einladung des Hörsaals am 11. Oktober 2024 anlässlich des Podcast-Festivals Beats & Bones gehalten.
- Mohamed Amjahid. Unter Weißen. Was es heißt, privilegiert zu sein. München: Hanser Berlin 2017.
- Aus Politik und Zeitgeschichte: Privilegien. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2024.
- Rolf Becker/Wolfgang Lauterbach (Hrsg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. 5., erweitere Auflage. Wiesbaden: SpringerVS 2016.
- Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron. Die Illusion der Chancengleichheit: Untersuchungen zur Sozio-logie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett 1971.
- Pierre Bourdieu. Bildung. Aus dem Französischen von Barbara Picht u.a. Mit einem Nachwort von Markus Rieger-Ladich. Berlin: Suhrkamp 2018.
- Esme Choonara/Yuri Prasad. Der Irrweg der Privilegientheorie. In: International Socialism 142 (2020), S. 83-110.
- Combahee River Collective. Ein Schwarzes feministisches Statement (1977). In: Natascha A. Kelly (Hrsg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast 2019, S. 47-60.
- Ralf Dahrendorf. Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Nannen Verlag 1965.
- Didier Eribon. Betrachtungen zur Schwulenfrage. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer. Berlin: Suhrkamp 2019.
- Jan Feddersen/Philipp Gessler. Kampf der Identitäten. Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale. Berlin: Ch. Links Verlag 2021.
- Roxane Gay. Fragwürdige Privilegien. In: Dies.: Bad Feminist. Essays. München: btb 2019, S. 31-36.
- Michael S. Kimmel/Abby L. Ferber (Hrsg.): Privilege. A Reader. New York: Routledge 2017.
- Albrecht Koschorke. Identität, Vulnerabilität und Ressentiment. Positionskämpfe in den Mittelschichten. In: Leviathan 50 (2022), S. 469-486.
- Maria-Sibylla Lotter. Ich bin schuldig, weil ich bin (weiß, männlich und bürgerlich). Politik als Läute-rungsdiskurs. In: Herwig Grimm/Stephan Schleissig (Hrsg.): Moral und Schuld. Exkulpationsnarrative in Ethikdebatten. Baden-Baden: Nomos 2019, S. 67-86.
- Peggy McIntosh. Weißsein als Privileg. Die Privilege Papers. Nachwort von Markus Rieger-Ladich. Ditzingen: Reclam 2024.
- Walter Benn Michaels. Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheiten zu ignorieren. Aus dem Englischen übersetzt von Christoph Hesse. Berlin: Tiamat 2021.
- Linda Martín Alcoff. Das Problem, für andere zu sprechen. Ditzingen: Reclam 2023.
- Charles W. Mills. Weißes Nichtwissen. In: Kristina Lepold/Marina Martinez Mateo (Hrsg.): Critical Philosophy of Race. Ein Reader. Berlin: Suhrkamp 2021, S. 180-216,
- Heinz Mohnhaupt. Untersuchungen zum Verhältnis von Privileg und Kodifikation im 18. und 19. Jahr-hundert. In: ius commune 5 (1975), S. 71-121.
- Heinz Mohnhaupt. Privilegien als Sonderrechte in europäischen Rechtsordnungen vom Mittelalter bis heute. Frankfurt/Main: Klostermann 2024.
- Heinz Mohnhaupt/Barbara Dölemeyer (Hrsg.): Das Privileg im europäischen Vergleich. 2 Bände. Frankfurt/Main: Klostermann 1997/1999.
- Toni Morrison. Die Herkunft der Anderen. Über Rasse, Rassismus und Literatur. Mit einem Vorwort von Ta-Nehisi Coates. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Reinbek: Rowohlt 2018.
- Markus Rieger-Ladich. Identitätsdebatte oder: Das Comeback des Privilegs. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 66 (2021), S. 97-104.
- Markus Rieger-Ladich. Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument. Ditzingen: Reclam 2022.
- Markus Rieger-Ladich. Privilegien. In: Merkur 77 (2023), Heft 889, S. 71-80.
- Markus Rieger-Ladich. Neustart der Privilegienkritik. Ein Plädoyer. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 21 (2024), S. 4-10.
- Markus Rieger-Ladich. Bildungstheorien zur Einführung. 3., überabeitete und erweiterte Auflage. Hamburg: Junius 2025.
- Jörg Scheller. (Un)Check Your Privilege. Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert. Stuttgart: Hirzel 2022.
- Lea Susemichel/Jens Kastner. Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. 2. Auflage. Münster: Unrast 2020.
- Paula-Irene Villa Braslavsky. Identitätspolitik. In: POP. Kultur und Kritik 16 (2020), S. 70-76.
- Steffen Vogel. Das Erbe von 68: Identitätspolitik als Kulturrevolution. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 66 (2021), S. 97-104.
- Katharina Walgenbach. Bildungsprivilegien im 21. Jahrhundert. In: Meike Sophia Baader/Tatjana Freytag (Hrsg.): Bildung und Ungleichheit in Deutschland. Wiesbaden: VS 2017, S. 513-536.
- Gespräch vor dem Vortrag und was Rieger-Ladichs Oma damit zu hat
- Beginn Vortrag: Einleitung, These und Überblick
- Privileg aus rechtstheoretischer Perspektive
- Der Begriff Privileg in der Bildungsoziologie der 1960er und 1970er Jahre
- Privilegienkritik als Kampfbegriff in emazipatorischen Bewegungen
- Herausforderung für Neustart der Debatte
- Publikumsfragen nach dem Vortrag