Kolonialismus ist Geschichte. Doch hinterlässt er Spuren, die bis in die Gegenwart hineinwirken. Die Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami zeigt in ihrem Vortrag, wie eng der Kolonialismus mit liberalem Denken verwoben ist.
Der Kolonialismus begann im 15. Jahrhundert und dauerte bis ins 20. Jahrhundert. Und danach? Leben wir nun im Postkolonialismus? Schirin Amir-Moazami sagt: Postkolonialismus ist nicht zeitlich zu verstehen. Sie ist Islamwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin und leitet den Profilbereich Islam in Europa. Postkolonialismus ist eine Analysebrille, durch die wir die Auswirkungen des Kolonialismus verstehen können, so Schirin Amir-Moazami.
"Postkoloniale Theorie geht davon aus, dass Machtasymmetrien mit dem formalen Ende des Kolonialismus nicht beendet wurden."
In ihrem Vortrag beschreibt die Islamwissenschaftlerin, warum globale Ungerechtigkeiten keine schlichten Nachahmungen von Kolonialismus sind. Die Machtverflechtungen der Kolonialzeit schreiben sich auf eine Art ein, die nicht auf Anhieb sichtbar ist, sagt Schirin Amir-Moazami.
Liberales Denken hat den Kolonialismus vorangetrieben
Dass der Kolonialismus bis heute fortwirkt, liegt auch daran, dass der Rassismus, der den Kolonialismus vorantrieb, tief in liberalen Denktraditionen verwurzelt ist. "Das liberale Selbst hat sich erst in Abgrenzung vom nicht liberalen Anderen herausbilden können," sagt Schirin Amir-Moazami.
"Es existiert eine sehr intime Verbindung zwischen Rassismus, Kolonialismus und liberalem Denken. Diese Verbindung lässt sich in den Schriften der Schlüsselfiguren liberalen Denkens aufzeigen: von John Locke über Immanuel Kant bis John Stuart Mill."
Heute wirkt die Ausgrenzung sehr viel subtiler, weniger durch offen rassistische Sprache, sondern zum Beispiel in Debatten über Integration oder Entwicklungspolitik, so Schirin Amir-Moazami. In ihrem Vortrag erklärt sie außerdem, was die Judenassimilation im 19. und 20. Jahrhundert mit der Integration von Muslimen heute gemeinsam hat.
"Entwicklungspolitische Maßnahmen werden teilweise als Fortsetzung von Kolonialismus bezeichnet. Und zwar dann, wenn ehemalige kolonisierte Gebiete als bedürftig erachtet werden und gleichzeitig aber die Ressourcen wie Arbeit, Rohstoffe und Wissen nach wie vor extrahiert werden."
Ihren Vortrag "Das liberale Skript postkolonial gelesen" hat Schirin Amir-Moazami am 30. Januar 2023 im Rahmen der Vorlesungsreihe Offener Hörsaal "Zur Kritik und Zukunft des Liberalen Skripts“ gehalten. Die Vorlesungsreihe wird veranstaltet vom Exzellenzcluster "Contestations of the Liberal Script", das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG gefördert wird.
- Tyler Stovall: "White Freedom. The Racial History of an Idea". Princeton University Press, 2021.
- Uday Singh Mehta: "Liberalism and Empire. A Study in Nineteenth-Century British Liberal Thought". University of Chicago Press, 1999.
- Jennifer Pitts: "A Turn to Empire: The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France". Princeton University Press, 2006.
- David Theo Goldberg: "The Racial State". Wiley-Blackwell, 2001.
- Bhabha, Homi. “Of Mimicry and Man: The Ambivalence of Colonial Discourse.” Routledge 2005.
- Zygmunt Bauman: "Modernity and Ambivalence". Polity, 1993.
- Markell Patchen: "Bound by Recognition." Princeton University Press, 2003.
- Leora Btnitzky: "How Judaism Became a Religion: An Introduction to Modern Jewish Thought". Princeton University Press, 2013.
- Robin Judd: "Contested Rituals: Circumcision, Kosher Butchering, and Jewish Political Life in Germany, 1843-1933". Cornell University Press, 2007.
- Ann Laura Stoler: "Duress: Imperial Durabilities in Our Times". Duke University Press, 2016.