Philipp Spiegel liebt viele Frauen, liebt den Sex mit ihnen und zieht daraus seine Lebensenergie. Doch dann schleudert ihn ein Virus mit aller Kraft aus seinem bisherigen Leben heraus. Er erzählt, was vor der Diagnose war und was danach kam.
Bis ich Anfang 20 war, war ich eher der Zurückgezogene. Der Stille, der Schüchterne. Es begleitete mich stets eine, sagen wir, zentral-europäische Emotionslosigkeit. Kühl. Distanziert. Kopflastig. Das Herz hatte wenig zu sagen. Ich war nicht der Bad-Boy, sondern eher immer der Nette. Immer der gute, zuhörende Freund, der still und heimlich, links und rechts beschissen wurde. Pickelig noch dazu. Wenig Erfolg mit Frauen. Wenig Erfahrung. Wenig Sex.
"Ich war immer der gute, zuhörende Freund, der still und heimlich, links und rechts beschissen wurde. Wenig Erfolg mit Frauen. Wenig Sex."
Wenigstens nutzte ich meine Sexlosigkeit, um zu reisen. Um ungebunden zu sein. Schon damals interessierte mich der Wahnsinn von Krisengebieten, und diese fotografisch zu erkunden. Ohne Auftrag ging ich auf die Suche nach Abenteuern, um meinem Traum vom Fotojournalismus näher zu kommen. Nepal, Pakistan, Afghanistan. Eine gute Kompensation. Wenn schon so ein Loser, dann wenigstens einer mit Geschichten zu erzählen.
Anstatt mich mit der verkopften Trägheit in Deutschland und Österreich auseinanderzusetzen, wollte ich meine Home-Base in Süd-Europa anlegen: Spanien oder Portugal. Zu den heißblütigen Klischees. Zu den rhythmischen Hüften, den offen lachenden, dunkelhaarigen Frauen. Als blonder Bub fiel ich in solchen Ländern auf, bekam viel Aufmerksamkeit und stand oft im Mittelpunkt.
Meine Reisen verlagerten sich von Asien nach Südamerika. Dann kam Uruguay. Brasilien. Und als ich 24 war, kam sie - die Argentinierin, die meinen Zugang zu Sexualität komplett veränderte. Sie war die Definition von Erotik. Von Leidenschaft. Von Lust und Lebensfreude.
"Als ich 24 war, kam sie - die Argentinierin, die meinen Zugang zu Sexualität komplett veränderte. Sie war die Definition von Erotik. Von Leidenschaft. Von Lust und Lebensfreude."
Eine Intensität, die ich nie zuvor gespürt hatte. Sie erkannte meine Sexualität, die Leidenschaft, die in mir steckte, die ich jedoch nie rausgelassen hatte. Eineinhalb Jahre verschmolzen wir miteinander in Spanien. Tabulos und ungeniert. Gingen an körperliche Grenzen. Wir erfanden Spiele wie Strip Schach und suchten uns gelegentlich Mitspielerinnen aus. Wohin wir auch gingen, wir versprühten Erotik und Lust. Wir verdrehten Köpfe. Im Nachhinein weiß ich: Durch sie wurde ich zum sexuellen Wesen. Für mich bedeutete diese Auseinandersetzung mit meiner Sexualität die absolute Freiheit.
Aber vor allem merkte ich, dass Sexualität Spaß bedeutet. Ironischerweise ist ja der Sex beim Sex das Langweiligste. Penetration ist nur ein Akt. Es geht doch um das Spielen, das Riechen, das Schmecken, um die Anziehung. Als ich das alles für mich verstanden hatte, bekam ich nicht mehr genug.
"Der Sex ist ja beim Sex der langweiligste Teil vom Ganzen. Penetration ist nur ein Akt. Es geht doch um das Spielen, das Riechen, das Schmecken, um die Anziehung."
In den meisten Frauen sah ich etwas Faszinierendes. Alter und Typ waren mir egal. Eine Freundin sagte mir mal, ich würde jede Frau so anschauen als ob sie die Einzige wäre. Ob die Galeristin in Lissabon, die Kassiererin in Wien oder das Model in meiner Wohngemeinschaft. Ich interessierte mich für Frauen, für ihre Sexualität, für ihre Fantasien. Ich wollte es um jeden Preis wissen – wie sie riechen, wie sie schmecken, welche Geheimnisse in ihnen schlummern.
Dabei geht es hier überhaupt nicht darum, dass ich toll im Bett war oder bin. Aber ich ließ die Frauen sie selbst sein – ohne Wertung. Ohne Urteil. Ich traute mich, nach unanständigen Dingen zu fragen. Nach unaussprechlichen Dingen. Und als ihre Blicke mir sagten: "Ich habe mich noch nie getraut, sowas zu machen", hat mein Herz schneller geschlagen.
Obwohl ich gelegentlich Beziehungen hatte, waren diese immer mit Frauen, die nie Beziehungen wollten. Die wollten, genauso wie ich, frei sein. Die liebten auch diesen Rausch der Sexualität. Ich war immer gerne in der Rolle des Affären-Mannes. Eine feste Beziehung war für mich einfach nicht interessant. Ich wusste, ich würde betrügen. Ich würde Lügen. Und deshalb sagte ich von Anfang an, dass ich nur für Affären zu haben bin - und für Spaß.
"Ich wusste, ich würde betrügen. Ich würde Lügen. Und deshalb sagte ich von Anfang an, dass ich nur für Affären zu haben bin – und für Spaß."
Vor kurzem sah ich einen Film, in dem ein Mann einer Frau sagte: "Ich bin vielleicht nicht der Mann fürs Leben, aber wenn du mit 80 beim Kartenspielen im Altersheim gefragt wirst, was deine frechsten sexuellen Späße waren, wirst du kichern und an mich denken." Der Satz hätte damals gut von mir sein können.
Ich reiste weiterhin durch die Welt. Meine Freiberuflichkeit erlaubte das. Was mir als Teenager so gefehlt hatte, hatte ich mit Ende zwanzig wieder gut gemacht. Ich war das reisende Fotografen-Ego. Maßlos von mir selbst überzeugt, führte ich dieses klischeebehaftete Künstlerdasein, das ich immer wollte. Henry Miller Style! Sex, Women and Rock ‘n Roll. Drogen waren nie mein Ding, höchstens vielleicht Alkohol.
Sich seiner eigenen Sexualität bewusst zu sein ist das schönste Gefühl, dass ich kenne. Dieses Gefühl gibt einem Sicherheit, Selbstbewusstsein, Ordnung und Klarheit. Menschen die guten Sex haben, haben das schönste und offenste Lachen. Und so genoss ich mein Leben. Bis der Virus kam.
Nach einem leidenschaftlichen September-Wochenende 2013 in Madrid nahm ich etwas mit. Sie wusste nicht, dass sie sich wenige Wochen zuvor mit HIV infiziert hatte. Sie hatte an diesem Wochenende ihre Tage. Wir waren zwar vorsichtig, benutzten Kondome. Aber ihr Blut war überall. An meinem Penis, in meinem Mund. Vielleicht hatte ich offene Wunden oder Kratzer. Keine Ahnung, wie es passierte. Aber ihr Blut gab mir HIV.
"Wir benutzten Kondome. Aber ihr Blut war überall. An meinem Penis, in meinem Mund. Keine Ahnung, wie es passierte. Aber ihr Blut gab mir HIV."
Vier Monate lebte ich mein Leben weiter. Mit der kurzen Unterbrechung einer fürchterlichen Erkrankung. Damals dachte ich, nichts-ahnend, es wäre ein heftiger grippaler Infekt gewesen. Aber es war der Virus, der mich angriff und meinen Körper lahmlegte.
In den vier Monaten nach der Infizierung setzte ich meine Arbeit fort. Ich ging nach Indien, wegen einer Reportage über Prostitution und Menschenhandel. Zum Abschalten von den Strapazen suchte ich Zuflucht in einem Ashram im süd-indischen Pune. Ruhe, Meditation, Stressabbau unter Palmen. Obwohl ich der überteuerten Verwestlichung von Meditation skeptisch gegenüberstand, war mir das in dem Moment egal. Ich wollte, wie die vielen Europäer in diesem Ashram, eine Rote Robe tragen, mich unter einen Baum setzen und meditieren.
Doch es kam anders. Ich verstand nicht, warum ein HIV-Test für die Bleibe in diesem Ashram obligatorisch war. Heute weiß ich aber, dass mir dieser Test das Leben gerettet hat.
"Ich zerbrach fast an der Belastung dieser Diagnose. Heute kann ich sagen, dass ein Teil von mir damals schon gestorben ist."
In den ersten Wochen kämpfte ich sehr mit meinem Halbwissen über HIV und Aids. Dieses furchtbare Halbwissen, das noch aus den 80ern und 90ern stammte. Freddie Mercury. Philadelphia. Risikogruppe Schwule Männer. HIV gleich Todesurteil. Ich hatte mich nie zu einer Risikogruppe gezählt, mich nie weitergebildet. Trotz meiner Umtriebigkeit. Natürlich verhütete ich – das war selbstverständlich. Aber ich war mir immer sicher: Mich würde das nicht erwischen. Das hatte ich nun von meiner Arroganz.
Halbwissen, Arroganz und ein scheinbares Todesurteil
Während dieser großen anfänglichen Ungewissheit musste ich mich mit meinem neuen Leben auseinandersetzen. Und ich hasste es. Regelmäßige Arztbesuche. Regelmäßige Therapiesitzungen. Monate nach der Diagnose kam mir immer wieder der Gedanke: Ich habe die falsche Diagnose. Die Ärzte haben sicher einen Fehler gemacht! Mir kam immer wieder die Illusion, dass alles vielleicht nur ein Missverständnis sei. Dass alle sich geirrt haben.
Bevor ich mich überhaupt auf die Suche gemacht habe, um herauszufinden, wer mich infiziert hat, wollte ich sicher gehen, dass ich niemanden angesteckt hatte. Das war mir viel wichtiger. Anhand der Virenkonzentration in meinem Blut und dem Krankheitsbild konnte der ungefähre Zeitrahmen der Infektion ermittelt werden. Irgendwann stand fest: Ich hatte seit meiner Infizierung mit vier Frauen geschlafen. Vier Frauen, denen ich diese furchtbare Nachricht überbringen musste. Vier Frauen, die sich testen mussten. Meine Schuld diesen Frauen gegenüber war unerträglich.
"Vier Frauen, mit denen ich seit meiner Infizierung geschlafen hatte, musste ich diese furchtbare Nachricht überbringen. Meine Schuld war unerträglich."
Alleine der Gedanke, jemanden angesteckt haben zu können, drohte mich aufzufressen. Eine Frau nach der anderen würde ich anrufen müssen. Und dann abwarten müssen, bis die Ergebnisse da waren. In diesen Wochen war Schlaf in weite Ferne gerückt. Bis drei der Frauen mir schrieben, sie seien negativ. Meine Erleichterung – unbeschreiblich. Die Kondome hatten nicht nur die Frauen geschützt, sondern auch mein Gewissen. Ich hatte niemanden angesteckt.
Es blieb also nur eine Frau übrig – meine Affäre aus Madrid. Als ich ihr schrieb, dass ich glaube von ihr angesteckt geworden zu sein, meldete sie sich wutentbrannt zurück: Wie ich so etwas behaupten könnte! Aber dann war Funkstille. Keine Antwort mehr. Als mir klar war, dass sie mich angesteckt haben muss, empfand ich kein bisschen Wut. Ganz im Gegenteil. Sie tat mir leid, denn sie wusste nichts von ihrer Infektion. Sie hat es von mir erfahren. Ich hätte zu dem Zeitpunkt nicht in ihren Schuhen stecken wollen. Ich wusste, für sie ist es Strafe genug mit der Tatsache leben zu müssen, mich angesteckt zu haben.
Und jetzt, nach dem sich der erste Schock gelegt hatte, sollte ich mich meiner Zukunft widmen. Dabei waren für mich zwei Dinge gestorben, die Freiheit bedeuteten: Meine Reisen und meine Sexualität. Mit dem Virus in mir kam ich mir giftig vor. Gefährlich. Mein Penis – eine tödliche Waffe. Mein Blut hoch infektiös. Gemeinsames Kochen mit Freunden wurde zur Qual: Angst vor dem Zwiebelschneiden war mir etwas Neues. Und das Verschweigen meines Zustands belastete mich, machte mich depressiv.
"Das Einzige, was mir Mut machte: Ich lernte, dass HIV-Positive einen Zustand erreichen können, indem sie andere durch Sex gar nicht mehr anstecken können."
Das Einzige, was mir etwas Mut machte und mich motivierte, war mir ein bis dato unbekanntes Wort: Nachweisgrenze. Ich lernte, dass HIV-Positive einen Zustand erreichen können, indem sie andere durch Sex gar nicht mehr anstecken können. Und zwar, wenn die Viren im Blut so sehr durch Medikamente unterdrückt werden, dass sie unter der Nachweisgrenze sind.
Bei mir wurde das Virus vier Monate nach der Infektion entdeckt – zu einem sehr frühen Zeitpunkt also. Ich hatte Glück. Ich verstand, dass ich die Nachweisgrenze ziemlich schnell erreichen kann, Nicht-infektiös sein kann. Frei sein kann. Lediglich eine Pille am Tag und mein Körper könnte sich gänzlich erholen.
Der Gedanke, dass ich ungetestet und ohne Medikation, wenige Jahre später mit großer Wahrscheinlichkeit an Aids gestorben wäre, löst bei mir noch immer Angstzustände aus. Mit all dem Wissen, wie ich meine Infektion effektiv unter Kontrolle bringen könnte, kam auch wieder Vertrauen zurück.
"Die Angst. Das Leidtun. Ich wurde zum Botschafter vom Tod. Mir kommt es manchmal vor, als hätte ich in dieser Zeit den Tod kennengelernt."
Ich fing langsam an, Freunden und Familie vom Virus zu erzählen. Immer wieder begegneten mir schockierte Augenpaare. Die Angst. Das Leidtun. Ich wurde zum Botschafter vom Tod. Mir kommt es manchmal vor, als hätte ich in dieser Zeit den Tod kennengelernt. Beziehungsweise einen anderen Zugang zu meiner Sterblichkeit bekommen. Danach arbeitete ich daran, mein Leben wieder auf Schiene zu bringen.
Und ich tastete mich wieder zu dem Thema vor, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte: meiner Sexualität. Es schossen mir immer wieder Fragen durch den Kopf – werde ich jemals wieder Sex haben? Mit wem? Werde ich je Kinder kriegen? Zu welchem Zeitpunkt muss ich es sagen? Wie sicher ist diese Nachweisgrenze?
Ich würde viel später realisieren, dass ich ein Sextrauma hatte. Die Infizierung hatte meine Sexualität begraben. Auf einmal habe ich nicht mehr Spaß und Freiheit mit Sex verbunden, sondern Gefahr und Panik. Die Angst, infektiös zu sein. Jemanden anzustecken. Ich kam mir unrein und beschmutzt vor.
"Ich hatte ein Sextrauma. Die Angst, infektiös zu sein. Jemanden anzustecken. Ich kam mir unrein und beschmutzt vor."
Frauen waren in weite Ferne gerückt. Beim Ausgehen beobachtete ich sie von Weitem. Mit einem Verlangen, das wehtat. Sie waren so nah, und gleichzeitig so unglaublich weit weg. Ich sehnte mich nach ihrem Lachen, ihrem Duft. Ich sprach von früheren Affären wie von einer lang vergrabenen Mythologie. Wenn ich einer Frau zufällig doch näher kam, quälten mich meine Gedanken: "Kann sie sehen, dass ich etwas verheimliche?" "Kann sie mein Gift riechen?" Meine Angst, durchschaut zu werden war überwältigend.
Und dann kam das erste Mal. Es war ein halbes Jahr nach meiner Infizierung. Zwei Monate zuvor hatte ich bereits die Nachweisgrenze erreicht und konnte eigentlich sicher sein, dass ich niemanden beim Sex anstecken würde. Bei der Geburtstagsfeier eines Freundes irrte ich angespannt von einem Gespräch zum nächsten. Ich war gezeichnet von den Strapazen der letzten Monate. Nichtsdestotrotz merkte ich, dass eine gemeinsame Bekannte sich für mich interessierte. Ich fand sie süß, war aber gleichzeitig irritiert, dass sie mit mir flirtete. Da waren plötzlich die Zweifel wieder: Wie konnte sie mich attraktiv finden?
Im Verlauf des Abends fragte sie, ob ich mit zu ihr kommen wollte. Die Frage löste fast eine Panikattacke in mir aus. Aber ich wusste: Ich muss mich der Angst vor Sex stellen. Jetzt oder nie. Ich werde nicht in die Details gehen, aber es war wohl die erbärmlichste Nacht meines Lebens. In meinem Kopf rasten die Gedanken. Was mach ich hier eigentlich? Kann ich mir wirklich sicher sein, dass ich nicht ansteckend bin? Was ist, wenn das Kondom reißt?
Es waren die längsten zwölf Sekunden meines Lebens. Ich kam so schnell, dass ich selber schockiert war. Sie war sauer und enttäuscht. Mir war es unglaublich peinlich. Ich erfand eine Geschichte, dass ich gerade verlassen worden war und deshalb mit dem Kopf woanders war. Dann überprüfte ich panisch das Kondom, warf es in den Müll und rannte um mein Leben. Weg aus der Wohnung. Raus aus der Situation. Ich musste wieder atmen.
"Ich kam so schnell, dass ich selber schockiert war. Sie war sauer und enttäuscht. Mir war es unglaublich peinlich."
Es war ein warmer Juliabend. Bis heute ist er für mich wie ein Winterabend in Erinnerung geblieben. Eiseskälte umhüllte mich. Ich ging langsam durch die Nacht nach Hause. Ich war zerstört. Wütend. Und ich war unendlich traurig, dass mein Leben so eine Wendung genommen hatte. Ein Jahr zuvor war ich noch der Held, der einen wunderschönen Dreier gehabt hatte. Und jetzt war ich hier. Alleine. Gebrochen. Ich hatte den Spaß an allem verloren, was mir wichtig war. Manche werden sagen, es ist ja nur Sex – aber das ist es eben nicht. Nicht für mich. Für mich war meine Sexualität eine Lebenskraft. Und wie gesagt – die ultimative Freiheit.
Mittlerweile war ein Jahr vergangen, und ich lebte wie ein Eremit. Isoliert. Gelegentlich traf ich Frauen. Aber Sex war selten. Und mit viel Anstrengung und Stress verbunden. Ich fühlte mich hässlich. Ich war zerfressen von Schuld und Selbst-Hass. Mein Selbstmitleid widerte mich an. Ich war wieder der Philipp mit Anfang 20: Verklemmt. Schüchtern. Zurückhaltend.
"Ich hatte den Spaß an allem verloren, was mir wichtig war. Für mich war meine Sexualität eine Lebenskraft. Und die ultimative Freiheit."
Ich probierte Apps wie Tinder aus, fand diese aber fürchterlich. Ich vermisste dabei das Umwerben, das tatsächliche Knistern beim ersten Kennenlernen einer Frau. Und ich wollte aus Wien weg. Wien empfand ich schon immer als eine asexuelle Stadt. Hier fehlte mir die Leidenschaft, die Leichtigkeit und die Erotik. Mir war außerdem klar: Ich brauchte einen neuen Zugang zu mir und meiner Sexualität. Und deshalb ging ich zurück nach Spanien.
Ich erzählte meinen Freunden dort vom HIV. Und anstatt der üblichen Schockstarre, die ich schon so gut aus Österreich und Deutschland kannte, kamen sie mir mit einem: "Echt? Na blöd – aber du nimmst eh deine Medikamente, oder?"
"Äh...ja..."
"Na dann ist es ja kein Problem..."
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Homosexuelle generell aufgeklärter als Heteros sind, was HIV betrifft. Aber in Spanien kannten sich auch Hetero-Frauen gut aus. Nachweisgrenze und Viruslast mussten nicht erklärt werden. In Spanien wurde mir außerdem klar: Ich bin nicht krank. Sondern lediglich HIV-Träger. Das war mir bis dahin nicht so gesagt worden. Ich kam mir krank und zerbrechlich vor. Aber dem war nicht so. Mit diesen Erkenntnissen platzte ein Knoten in mir.
"Ich bin nicht krank. Sondern lediglich HIV-Träger. Das war mir bis dahin nicht so gesagt worden."
Langsam fing ich an, das Trauma Sexualität zu verarbeiten. Ich fing an zu lesen. Über sexuelle Praktiken und Techniken. Besuchte Tantra-Seminare. Lernte mich neu kennen und mich wieder spüren. Spanien hatte ich schon immer als sexuell offener erlebt. Und in den Monaten in Madrid und Barcelona wurde wieder zum sexuellen Menschen. Ich konnte mich entscheiden: Voller Selbstmitleid zu vereinsamen, oder dagegen anzukämpfen. Und ich beschloss mein Leben wieder in meine eigenen Hände zu nehmen.
Heute kann ich sagen: Ich habe mir selbst vergeben. Ich empfinde keine Scham mehr. Natürlich ist es anders als vorher. Natürlich hat die Infektion etwas geändert. Ich empfinde mittlerweile Demut meiner Sexualität gegenüber. Ich empfinde Dankbarkeit und ein noch größeres Genießen.
"Heute kann ich sagen: Ich habe mir selbst vergeben. Ich empfinde keine Scham mehr."
Ich empfinde eine neue Verantwortung. Die HIV Infektion ist eine Information, mit der man sehr vorsichtig umgehen muss. Erzählt man es der falschen Person, wissen plötzlich viele davon. Mittlerweile erkenne ich die Blicke sofort. Ich habe gelernt, Menschen unheimlich gut zu lesen. Ich kann gut abschätzen, wie jemand auf die Information reagieren wird. Ich erkenne auch, wenn jemand versucht, Angst zu überspielen.
Wenn man es genau nimmt, ist mein Virus aufgrund meiner Medikation und meiner Verantwortung so ansteckend wie Bluthochdruck. Ich kann Kinder zeugen, ich lebe so lange wie andere auch. Nur weil der HI Virus so krass stigmatisiert ist, herrscht zu allererst Panik. Deshalb verschweige ich meinen Zustand meistens. Insbesondere bei One-Night-Stands. Natürlich schütze ich immer mit Kondom. Aber der Virus hat keinerlei körperlichen Einfluss.
"Nur weil der HI Virus so krass stigmatisiert ist, herrscht zu allererst Panik. Deshalb verschweige ich meinen Zustand meistens. Insbesondere bei One-Night-Stands."
Frauen, die von meinem Zustand erfahren, bevor ich mit ihnen geschlafen habe, sind zwar dankbar, dass ich es erzählt habe, aber innerhalb kürzester Zeit besteht keinerlei Kontakt mehr. Ich werde als Mann mit Virus gesehen. Nicht als Ich. Keine Chance. Frauen dagegen, denen ich es erst später erzählt habe, haben alle, bis dato, viel positiver reagiert. Sie haben zugegeben, dass sie mich nie kennengelernt hätten, wenn sie es vorher gewusst hätten. Sie hätten mich, wie die anderen, abgeschoben und vergessen. Mit all diesen Frauen bin ich heute eng befreundet. Sie können alle nachvollziehen, warum ich es nicht von Anfang an erzählt habe. Und sie haben mich nie dafür verurteilt.
Lebendiger als je zuvor
Und jetzt? Jetzt wo ich meine Sexualität wiedergefunden habe, bin ich viel wählerischer geworden. Ich habe keinerlei Interesse an Menschen, wenn ich voraussehen kann, dass sie mit unüberlegter Abscheu auf mein HIV-Geständnis reagieren werden. Leider sind das sehr viele. Und das hat nichts mit Bildung, Schicht oder sonst etwas Äußerem zu tun. Ich habe ein Feingefühl dafür entwickelt. Aber im Großen und Ganzen flirte ich wieder. Ich genieße wieder. Und ich bin lebendiger als je zuvor.
Ich denke gelegentlich an all diejenigen, die sterben mussten, bevor es lebensrettende Medikamente gab. Ich bin dankbar für ein Gesundheitssystem, das für meine Medikation und Sicherheit sorgt. Ich bin den Leuten dankbar, die mit ihrer Forschung mein Leben ermöglichen. Und ich bin dankbar, dass ich das Glück hatte, meinen Status so früh zu erfahren und dadurch ein normales Leben führen zu können. Denn, ohne all das wäre ich ziemlich sicher spätestens 2019, also nächstes Jahr, nicht mehr am Leben.
Philipp Spiegel ist 35 und schreibt unter einem Pseudonym. Er verschweigt seinen richtigen Namen, um sich selbst und seine Familie zu schützen. Die Bilder auf dieser Seite sind aus seiner Ausstellung über HIV und Heterosexualität „Going Viral“, die noch bis Ende Februar in Wien läuft.
Wenn ihr mehr über Philipp Spiegel erfahren wollt:
- Philipp Spiegels Austellungsblog | "On Going Viral"
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