Beim Gesundheitsschutz kann gerade der Umstand, dass Prävention funktioniert, dazu führen, dass weniger Menschen mitmachen - und damit der Schutz sinkt. Ganz entscheidend dabei: die Gruppendynamik, erklärt ein Soziologe.
Das Präventionsparadox lasse ihm derzeit keine Ruhe, hat der Virologe Christian Drosten gesagt. Damit meint er, dass der Erfolg der bisherigen Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie dazu führt, dass die aktuell weniger strengen Einschränkungen infrage gestellt werden.
"Das Paradoxe ist, dass man sich sicher fühlt, weil Präventionsmaßnahmen funktionieren und es so scheint, als hätte man die Krankheit im Griff. Die Motivation sinkt."
Den Erfolg misst der Virologe auch an der Reproduktionszahl. Diese liegt zumindest zeitweise unter eins. Das bedeutet, dass ein infizierter Mensch nach aktueller statistischer Schätzung durchschnittlich weniger als einen weiteren Menschen infiziert.
Konstantes Abwägen und Solidarität
Die Folge dieser Entwicklung: Das Gesundheitssystem ist weitestgehend stabil, die Krankenhäuser sind nicht überlastet. Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Helene Nikita Schreiner hat sich den Balanceakt zwischen individueller Einschränkung und kollektivem Nutzen genauer angesehen. Händewaschen und Mundschutz bis Schulschließungen und Kontaktverbot seien eben sehr unterschiedliche Ansprüche an einzelne Menschen. Sie sagt: "Es ist also ein konstantes Abwägen. Und natürlich auch eine Frage der Solidarität."
Klar ist: "Flatten the curve" bedeutet eben auch, dass eine Minderheit, die zu einer Risikogruppe gehört, von einer Mehrheit mitgeschützt wird und sichergestellt ist, dass alle Erkrankten innerhalb des Gesundheitssystems professionell versorgt werden können.
Zum Schutz einer Minderheit
Genau hier kommt jetzt das Präventionsparadox ins Spiel. Es erklärt, warum sich mit einem vorbeugenden Einsatz, der die Gesamtpopulation betrifft, mehr Krankheiten und Todesfälle verhindern lässt, als wenn das nur für die Hochrisikogruppe gelten würde. Also, warum die Risikogruppe besser geschützt ist, wenn möglichst alle mitmachen und sich nicht nur die Risikogruppe an strenge Maßnahmen halten muss. Das gilt in Zeiten von Covid-19, aber auch beim Impfen oder beim Benutzen von Kondomen beim Sex. Diese Maßnahmen sind nicht zwingend für die oder den Einzelnen wichtig, schützen im Zweifelsfall aber andere, sagt Helene.
Regeln sollten cool sein
Paradox ist jetzt der Umstand, dass die ersten Schritte zur Eindämmung von Covid-19 funktioniert haben und wir uns sicher fühlen. Es scheint also so, als hätte unsere Gesellschaft den Ausbruch der Krankheit im Griff. Die Folge: Wer nicht unmittelbar betroffen ist, fühlt sich sicher. Und damit sinkt die Motivation, sich an Regeln zu halten, die das eigene Leben einschränken.
"Der Mensch muss sich verwundbar fühlen, die Erkrankung muss als schwerwiegend gelten, an die Regeln muss geglaubt werden, die soziale Umgebung muss sich an die Regeln halten."
Was kann dagegen getan werden? Holger Pfaff lehrt Mediensoziologie an der Universität Köln. Mit dem Health-Action-Progress-Approach erklärt er die Voraussetzungen dafür, dass sich Menschen an Regeln zum Gesundheitsschutz halten. Ein zentraler Punkt ist für ihn der Gruppendruck: Sobald im sozialen Umfeld das Einhalten der Schutzregeln als uncool gelte, sei das ein ganz massiver Anreiz, die Regeln selbst auch nicht mehr einzuhalten. Die eigene Verwundbarkeit, das schwere Ausmaß der gesundheitlichen Gefahr und der Glaube an die Wirksamkeit der Regeln, all das könnten Gruppendruckphänomene mit Leichtigkeit in den Hintergrund stellen.
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