Die einen sind egalitärer, die anderen migrationsfreundlicher. Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall unterscheiden sich die Einstellungen in Ost- und Westdeutschland stark. Ein Vortrag der Soziologen Daniela Grunow und Mirko Braack.
In manchen Hinsichten unterscheiden sich die Einstellungen von Menschen in Ost- und Westdeutschland wenig. In der Theorie, zum Beispiel, befürwortet eine überwältigende Mehrheit in Ost und West die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Doch wenn Soziolog*innen etwas konkreter nachfragen, tun sich doch große Unterschiede auf.
Auf die Frage "Kann eine Mutter, die Vollzeit arbeitet, eine genauso warme und sichere Beziehung zu ihren Kindern aufbauen wie eine Mutter, die nicht berufstätig ist?" antworten 79 Prozent in Ostdeutschland mit "Ja klar, kann sie". Im Westen sind es nur 55 Prozent.
"Eine Gruppe, die sagt 'Ich bin absolut pro egalitäre Arbeitsteilung und für gleiche Rechte für Männer und Frauen, aber die Zugezogenen sollen bitte draußen bleiben' – diese Gruppe gibt es theoretisch eigentlich nicht. Ich glaube aber, es gibt sie."
Auch beim Thema Migration gibt es deutliche Unterschiede zwischen Ost und West: Im Westen ist die Zustimmung deutlich höher als im Osten. Auf die Frage, ob Migrant*innen gut oder schlecht für die deutsche Wirtschaft sind, antworten 65 Prozent der Westdeutschen mit "Ja, das ist gut". Aber nur 55 Prozent der Ostdeutschen.
Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Ergebnissen und wie lassen sie sich erklären? Um diese Frage dreht sich der gemeinsame Vortrag der beiden Soziologen Daniela Grunow und Mirko Braack.
Unterschiede in Ost und West widersprechen Modernisierungstheorien
Die Ergebnisse der Umfrage sind erstaunlich, erklärt Daniela Grunow. Sie widerlegen die üblichen soziologischen Modernisierungstheorien: Die besagen, dass mit steigendem Wohlstand und weniger materiellen Sorgen die Menschen auch mehr Pluralität und gemeinsame Teilhabe befürworten – unabhängig von Geschlecht oder Migrationshintergrund.
Alltägliche Erfahrungen spielen eine Rolle
Doch die Untersuchungen von Grunow und Braack liefern ein anderes Bild: Es gibt in Ostdeutschland eine große Gruppe von Menschen, die absolut für Gleichberechtigung von Männern und Frauen sind, Migration aber ablehnen. Im Westen gibt es eine Gruppe, die Migration befürwortet, aber skeptisch ist, wenn es um Kitabetreuung oder Vollzeitarbeit von Müttern geht.
"Eine mögliche Erklärung ist diese Alltäglichkeit der Begegnung mit genderegalitären Arrangements gerade in Ostdeutschland, und andererseits die Alltäglichkeit der Begegnung mit Migration in Westdeutschland."
Wie es zu diesen unterschiedlichen Einstellungen kommt, ist wissenschaftlich nicht eindeutig zu sagen. Eine These von Grunow und Braack: Die Alltäglichkeit von Gleichberechtigung von Männern und Frauen besteht im Osten schon viel länger als im Westen. Umgekehrt sind Begegnungen mit Migration im Westen schon länger Alltag als im Osten.
Daniela Grunow ist Professorin für Soziologie und Mirko K. Braack ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Teilinstitut Frankfurt am Main des Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ihr gemeinsamer Vortrag hat den Titel "Persistente Unterschiede: Einstellungen zu Migration und Geschlecht in Ost- und Westdeutschland". Sie hielten ihn am 24. Juli 2024 in Offenbach im Rahmen der Goethe Lectures Offenbach.