Rettungsdienste schlagen Alarm: Sie seien kurz vor der Überlastung. Der Sanitäter Luis Teichmann ist einer derjenigen, die den Krankenwagen fahren, wenn wir den Notruf 112 wählen. Nicht jedes Mal, wenn er gerufen wird, wäre das wirklich nötig gewesen, erklärt er. Wir alle können helfen, das System zu entlasten.
Es klingt alarmierend: Ein Kollaps des Rettungsdienstes – vor nichts weniger warnt das neue Bündnis Pro Rettungsdienst. Insgesamt sechs Verbände haben sich darin zusammengeschlossen, darunter die deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft, die Mitarbeiterseite der Caritas und der Deutsche Berufsverband Rettungsdienst.
"Der Rettungsdienst kollabiert"
Das junge Bündnis hat sich gerade auf einer Pressekonferenz vorgestellt und dies zum Anlass genommen, um einen Notruf abzusetzen - ein Notruf der Notdienste: Von einem „dramatischen Personalmangel" ist die Rede, von Frustration und einer "nie dagewesenen Berufsflucht", der Handlungsdruck sei riesig.
Das Bündnis Pro Rettungsdienst spricht davon, dass höchstens 15 Prozent der derzeitigen Notarzteinsätze echte Notfälle seien. Luis Teichmann ist Rettungssanitäter und Rettungsingenieur und seit sieben Jahren als Sanitäter im Rettungsdienst. Er erlebt die Situation ganz ähnlich.
"Ich würde sagen, wenn man zehn Einsätze in der Zwölf-Stunden-Schicht fährt, dass maximal ein Einsatz dabei war, wo man sagen würde: Okay, dafür haben wir diesen Rettungswagen gebraucht, das Equipment und unsere Berufsausbildung."
Luis schätzt, dass durchschnittlich nur einer von zehn Einsätzen, zu denen er gerufen wird, ein echter Notfall ist, für den er ausgebildet und für den der Rettungswagen ausgestattet wurde. "Der Rest bezieht sich dann tatsächlich eher so auf Einsätze wie allgemeinmedizinische Beratung, reine Transportleistungen oder die klassische Alkohol- oder Drogen-Intoxikation an diversen Hotspots."
Anspruch: 24-Stunden-Versorgung
Er beobachtet bei den Menschen, die ihn rufen, oft Hilflosigkeit. "Das scheint einfach der neue gesellschaftliche Anspruch zu sein, dass ich 24/7 alles abklären kann und zu jedem kleinen Wehwehchen eine medizinische Beratung bekomme", sagt er. Es ärgere ihn und seine Kolleg*innen durchaus, wenn sie um drei Uhr morgens gerufen würden und die Person sage dann, dass sie bereits seit drei Wochen Schmerzen habe, aber jetzt gerade sei wieder ein Ziehen zu spüren.
"Ich würde sagen, in einer Industrienation ist das ja eigentlich cool, wenn ich 24/7 alles abklären kann. Das Problem ist, dass wir aktuell kein Gesundheitssystem haben, das diesen Bedarf in irgendeiner Form decken kann."
Das Problem sei, dass das Gesundheitssystem dieses Bedürfnis nach einer Rund-um-die-Uhr-Behandlung nicht hergebe. "Aktuell wird das auf Stellen umverteilt, die dafür gar nicht qualifiziert sind und das auch gar nicht vernünftig machen können. Und das führt dann eben zu diesen Überlastungen in den Notaufnahmen", sagt Luis. Bei den Rettungsdiensten und beim Personal führe das zu einer großen Unzufriedenheit.
Wann wir den Notruf wählen sollten
Wenn ihr überlegt, ob es Sinn macht, einen Rettungswagen anzufordern, könnt ihr euch an folgenden beiden Fragen orientieren:
- Liegt ein akutes medizinisches Problem vor, das ihr alleine nicht lösen könnt?
- Ist niemand in der Nähe, der oder die helfen kann, das Problem zu lösen?
"Man wird immer begrüßt, überall in Deutschland mit der ersten Frage: Notruf, Feuerwehr und Rettungsdienst – in welcher Stadt ist der Notfallort?"
Wenn wir den Notruf wählen, sollten wir den Ort kennen, zu dem wir den Rettungswagen rufen. Luis Teichmann rät, dann gleich auch noch auf Besonderheiten hinzuweisen – etwa, wenn ein Haus in einer versteckten Seitengasse liegt oder wenn es sich um einen Hintereingang handelt.
"Wenn schon Verwandte beim Familienbesuch Probleme haben, das Haus zu finden, dann bitte nicht erwarten, dass wir das tun."
Die Person in der Leitstelle wird euch dann durch das Gespräch führen und versucht dabei, auch Hinweise darauf zu finden, wie hoch die Dringlichkeit des Anrufs ist. "Man muss nur wissen, wo man ist und dann auf die Rückfragen warten", erklärt Luis.
Für die Telefonate gibt es sogenannte Notrufabfrage-Protokolle. Das sind feste Fragen aus einem Computersystem, die nacheinander abgearbeitet werden. Aber am Ende muss es immer sehr schnell gehen, in den meisten Fällen wird dann ein Rettungswagen oder ein Rettungswagen mit Notarzt geschickt.
"Ich kann nur aufgrund eines zweiminütigen Telefonats beurteilen, ob der Patient nicht vielleicht doch was hat. Und deshalb wird dann gesagt: Okay, wir schicken lieber einmal zu viel als einmal zu wenig."
Luis Teichmann findet es problematisch, dass Patient*innen selbst entscheiden müssen, wie schwerwiegend ihr Problem ist und wer dafür ein*e geeignete*r Ansprechpartner*in ist: Ob wir selbst in die Notaufnahme gehen, den kassenärztlichen Notdienst anrufen, zum Facharzt gehen oder einen Rettungsdienst anrufen.
Zu einem ähnlichen Schluss komme auch eine Studie zur Reform der Notfallversorgung, die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben wurde – nämlich, dass es einen Single Point of Contact braucht, also eine Nummer, die man anruft, sagt Luis. Heißt: Nicht wir müssten entscheiden, sondern eine Person würde das tun, die wir unter dieser Nummer erreichten. Und so könne die Belastung im medizinischen System besser verteilt werden.