Auch die Nachwendegeneration ist noch von der Teilung Deutschlands geprägt, obwohl sie die DDR selbst nicht miterlebt hat. In den Familien und auch öffentlich wird über diese Zeit viel zu wenig gesprochen, sagt der Journalist und Autor Johannes Nichelmann, der selbst 1989 in Ostberlin geboren ist. Sein Plädoyer: mehr miteinander sprechen und zuhören. Für sein Buch "Nachwendekinder" hat er genau das getan.
Der Graben zwischen Ost und West wurde Johannes Nichelmann erst so richtig bewusst, als er mit 12 Jahren gemeinsam mit seinen Eltern von Berlin nach Bayern zog. Die neuen Mitschüler fragten ihn, wo aus Berlin er herkomme. Als er dann Pankow sagte, wurde ihnen klar, dass das früher in der DDR lag. Da war er dann auf einmal der Ossi und Schuld an allem, was in der DDR passiert ist, erzählt er. In Ostberlin hatte seine Herkunft nie eine Rolle gespielt, nun fand er sich plötzlich in einer Verteidigungshaltung wieder.
"Auf einmal musste ich etwas verteidigen oder wollte etwas verteidigen, was ich gar nicht verteidigen konnte, weil ich überhaupt nicht wusste, was es eigentlich ist."
Heute beschreibt der Journalist das alles mit einem Lachen. Damals aber, sagt er rückblickend, war das überhaupt nicht witzig. In der Schule sackte er ab. Und als die Mutter sich vom Lehrer anhören musste, es sei ja klar, dass ihr Sohn nichts könne, er käme ja schließlich aus dem Osten, war das für beide ein Schlag ins Gesicht. Nach einem Schulwechsel sei es dann langsam besser geworden.
Auch heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, gibt es noch immer Vorurteile und Verallgemeinerungen. Johannes ärgert sich, dass viele Menschen über einen Kamm geschoren werden: Als zum Beispiel in Sachsen und Brandenburg Landtagswahlen waren, habe es im ARD-Brennpunkt geheißen, "der Osten" habe gewählt. Und als es in Chemnitz 2018 zu Ausschreitungen kam, da habe es auch geheißen, "der Osten" habe ein Problem.
Ost und West: Noch viele Klischees auf beiden Seiten
Der Osten wird einem aufgestülpt, sagt Johannes im Interview. Aber auch umgekehrt erginge es im Osten Menschen so, die im Westen großgeworden sind. Klischees gebe es auf beiden Seiten.
So wie Johannes geht es vielen, die kurz nach der Wende in den Gebieten der ehemaligen DDR geboren wurde. Für sein Buch "Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen" hat der Journalist andere junge Ostdeutsche und ihre Eltern getroffen und ihnen zugehört. Wie denken die Jungen über die DDR, was wissen sie darüber, was wissen sie über ihre Eltern? Und was erzählen die Eltern überhaupt? In den Familien wird viel zu wenig über die DDR gesprochen, stellte er dabei fest.
Ein Geheimnis im Keller
So wie in seiner eigenen. Johannes' Eltern waren beide in der Partei. Dass sein Vater NVA-Grenzsoldat war, fand er zufällig im Alter von sieben heraus, sieben Jahre nach der Wende. Gemeinsam mit seinem Bruder fand er in Papas Kellerbüro eine Plastiktüte. Darin: die Uniform des Vaters. Als der sie dann beim Spielen damit erwischte, wurde er so richtig sauer, erinnert sich Johannes. Und selbst 13 Jahre später, also schon zwanzig Jahre nach der Wende, als Johannes einen Text über Grenzsoldaten schreiben wollte und seinen Vater darauf ansprach, sei der noch richtig ausgerastet.
"Man weiß, wenn man das Thema aufmacht, dass man irgendetwas aufmacht, worüber einfach nicht so gern gesprochen wird, und dass das irgendwelche alten Wunden aufreißt. Und man ist da ziemlich ziemlich vorsichtig.“
Mit seinen Eltern jenseits von unverdächtigen Alltagsanekdoten über die DDR sprechen, das kann Johannes erst jetzt, 23 Jahre später. Im Laufe seiner Recherchen für das Buch hat er sich auch mit seinem Vater und seiner Mutter an den Tisch gesetzt und geredet. Ihr fällt das noch immer schwer, erzählt Johannes. Wie er selbst früher hat auch sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.
Mehr über die DDR sprechen - privat und öffentlich
Sein Vater hingegen war richtig dankbar dafür, endlich zu erzählen. Das sei schon viel zu spät gewesen, sage er jetzt. Die Vergangenheit war für seinen Vater wie ein 30 Jahre lang aufgeblähtes Gespenst, in das nun eine Nadel gepiekst wurde, beschreibt Johannes diese Erleichterung.
Diese Sprachlosigkeit schafft blinde Flecken. Das, was die Nachwendekinder über die DDR in der Schule lernen oder in den Medien mitbekommen, passt oft nicht zu dem, was zu Hause erzählt wird. Da fehlt einfach ganz viel, sagt Johannes.
"Das sind alles komische Puzzle-Teile, die man nicht so richtig zusammenbekommt. Und da fehlen elementare Puzzle-Stücke. Wahrscheinlich nicht in allen Familien, aber in vielen Familien.“
Aber nicht nur in den Familien herrscht eine ungesunde Sprachlosigkeit, auch in der Gesellschaft, findet Johannes Nichelmann. Es sei natürlich normal und richtig, dass erst mal die Diktatur aufgearbeitet und viel über die SED etwa gesprochen würde. Aber die anderen Geschichten, die privaten Erlebnisse und die persönlichen Biografien, die müssen auch mal Platz finden, sagt er. Auch die derjenigen, die Parteimitglied waren, beim Militär oder anderweitig in das System involviert. Es ginge nicht darum, etwas zu entschuldigen. Aber man müsse darüber diskutieren können - öffentlich wie privat.
"Da gab es nie einen Raum in der Gesellschaft, glaube ich, um diese Geschichten einfach zu erzählen."
Johannes Nichelmann hat das Gefühl, dass die Vereinigung noch nicht so ganz vollzogen ist. Und trotzdem gibt es ein gesamtdeutsches Bewusstsein, glaubt er. Und: In einigen Jahren wird es den Graben Ost-West so nicht mehr geben, glaubt er. Oder hofft es zumindest.
"Ich habe einen kleinen Neffen, der ist drei Jahre alt. Ich hoffe schwer, dass dem das alles richtig egal sein wird."
Im Interview mit Sebastian Sonntag erzählt Johannes außerdem noch von den einzelnen Menschen, mit denen er gesprochen hat und von deren Geschichten. Von Lukas zum Beispiel, der immer stolz darauf war, dass sein Vater Punk und Oppositioneller war - bis ein Geheimnis gelüftet wurde. Das ganze Gespräch hört ihr, wenn ihr auf den Play-Button klickt.