"Es ist eine totale Selbstüberschätzung, dass die ganze Welt nach Europa will", sagt Sabine Hess, Professorin an der Universität Göttingen. Sie fordert daher: Schluss mit der Abschottungspolitik, damit nicht noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken.
Weltweit sind derzeit 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Nur ein Bruchteil von ihnen will nach Europa. Die Menschen, die den sehr riskanten Weg über das Mittelmeer wählen, sind zum größten Teil Bürgerkriegsflüchtlinge. Ihre Situation in der Heimat ist so dramatisch, dass ihnen egal ist, wo und wie sie sterben. Ob durch Krieg zu Hause oder Ertrinken im Mittelmeer macht für sie keinen Unterschied mehr. Auf dem Meer haben sie immerhin eine winzige Chance - im Zweifel ihre einzige.
"Die Bedrohungszenarien, mit denen wir hier hantieren, lassen sich durch die empirische Forschung nicht belegen."
Die Diskussionen rund um das Thema Flüchtlingspolitik hält Sabine Hesse für übertrieben. Geprägt von der Angst, dass eine Horde Flüchtlinge mit gepackten Koffern das europäische Festland überrennt. Es herrsche vor allem Angst vor Überforderung und Überlastung. Historisch gesehen sind wir in Europa und Deutschland allerdings schon mit ganz anderen Flüchtlingsbewegungen umgegangen - in Zeiten, in denen der Wohlstand nicht annähernd so groß war wie heute.
"Ich finde diese Debatte hoch konstruiert. Sie arbeitet mit Angst und Szenarien, die sich sowohl historisch als auch empirisch nicht halten lassen."
Abschottungspolitik bringt nichts
Vor allem kritisiert Sabine Hess, die als Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität in Göttingen lehrt, die derzeitige Abschottungspolitik der Europäischen Union. Denn egal wie viel Geld in die Sicherung der Grenzen gesteckt werde, es wird die Menschen nicht von einer Flucht nach Europa abhalten. Das hätten die Dramen im Mittelmeer deutlich gezeigt.
"Die Leute migrieren und sie migrieren selbst zu diesen katastrophalen Bedingungen."
Und noch ein Thema liegt der Professorin aus Göttingen am Herzen. Denn wer den Weg nach Europa sucht, der will nicht unbedingt auch hier heimisch werden. Es seien vor allem Menschen, die über Bildung und finanzielle Mittel verfügten. Viele von ihnen haben den Wunsch, wieder nach Hause zurückzukehren, wenn der Krieg vorbei ist. Und bringen Qualifikationen mit, die wir hierzulande durchaus benötigen. Die ärmeren Teile der Bevölkerung bleiben meist in den Krisengebieten. Sie können sich eine Flucht einfach nicht leisten. Und wenn, dann schaffen sie es höchstens über die nächste Grenze in eines der Nachbarländer.
Hintergrundinformationen zum Thema Flüchtlinge:
- Das Sterben an Europas Grenzen | Analysen, Videos und Reportagen auf Spiegel.de