Mehr als 108 Millionen Menschen sind im Vorjahr laut UNHCR geflüchtet. Gründe sind Hunger, Krieg und die Folgen des Klimawandels. Victoria Rietig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sagt, dass die Kosten, um Fluchtursachen zu bekämpfen, geringer seien, als Kosten, die durch Flucht entstehen.
Um die Zahlen der Flüchtenden geringer zu halten, müssten die Länder Fluchtursachen bekämpfen. Darüber wird auch in der Politik diskutiert. In Deutschland hat das in den vergangenen Jahren nicht besonders gut funktioniert. Die Zahl der in Deutschland asylsuchenden Menschen aus Ländern, in denen Krieg herrscht, ist laut Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach wie vor hoch. Victoria Rietig ist Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich unter anderem mit dem Thema Fluchtursachen. Als Musterbeispiel für eine gelungene Migrationspolitik nennt sie Mexiko.
"In Mexiko haben langfristige Investitionen zu einer Umkehr der Migrationsbewegungen geführt. Seit 2005 sind mehr Menschen aus den USA nach Mexiko als umgekehrt migriert."
Positivbeispiel Mexiko
In Deutschland hätten wir ein veraltetes Bild von Mexiko. Die wenig bekannte Wahrheit sei, dass ab 2005 – kurz bis vor Corona – mehr Menschen aus den USA nach Mexiko migriert sind als umgekehrt, sagt Victoria Rietig. Der Grund für diese Entwicklung in Mexiko sei, dass das Land "einen langen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat."
"Es gab immer mehr Jobs und die Mittelklasse ist gewachsen", sagt die Leiterin der Migrationsprogramme der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Demgegenüber stehen Probleme im Land wie Korruption und Gewalt durch Gangs. "Durch die positive wirtschaftliche Entwicklung Mexikos wollen mehr Menschen in ihrem Land bleiben oder zurückkehren", so die Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Muss nicht perfekt sein
Victoria Rietig sagt, dass Fluchtursachen wie Perspektivlosigkeit und Not im Land angegangen wurden. "Den Effekt sehen wir in den Migrationszahlen – andere Fluchtgründe wie Krise und Gewalt bestehen weiterhin. Das zeigt, dass Fluchtursachenbekämpfung nicht zu perfekten Bedingungen in Ländern führen muss. Aber zu einer spürbaren Verbesserung der Bedingungen", sagt sie. Die Expertin erklärt, dass in Mexiko verschiedene Faktoren zusammenkamen, die die Fluchtbewegungen im Land verbesserten.
"Natürlich sind in Mexiko verschiedene positive Entwicklungen zusammengekommen. Die Mitteklasse ist gewachsen, der Rückgang der Geburtenrate. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass es attraktiver wird, in einem Land zu bleiben."
Ein Land könne Fluchtursachen nicht innerhalb kürzester Zeit umkehren. Es müssten immer Faktoren zusammenkommen. Die Arbeit zur Fluchtursachenbekämpfung müsse fortgesetzt werden mit dem Wissen, dass es nichts Schlechtes ist. "Ein weiteres positives Beispiel für Flüchtlingspolitik sind die jugoslawischen Kriege in den 90er-Jahren", sagt Victoria Rietig.
Internationales Engagement führt dazu, das Menschen ein Land wieder aufbauen
In den Balkan-Staaten gab es eine ganz klare Fluchtursache – nämlich Krieg und einen ethnischen Konflikt mit vielen Vertriebenen. "Durch das Handeln der Internationalen Gemeinschaft konnte das nachhaltig beendet werden", sagt die Expertin. Das habe nicht nur dazu geführt, dass weniger Menschen fliehen mussten. Das Engagement führte auch dazu, dass viele Leute zurückkehrten und das Land wiederaufbauten. "Das ist ein Beispiel dafür, wie wir es auch für die Ukraine wünschen. In der Ukraine gibt es die aktuell die umgekehrte Dynamik zu Mexiko", so Victoria Rietig.
Nach wie vor gebe es in Mexiko Not und Armut als Grund für Flucht. Doch der Krieg und die Gewalt sei zurückgegangen, so Victoria Rietig. Ihrer Einschätzung nach gibt es aus dem gleichen Grund nach wie vor irreguläre Migration aus dem Balkan, die nicht enden wird. "Mit klugen Migrationsregelungen – wie der Westbalkanregelung – haben wir es geschafft, die irreguläre Migration zumindest spürbar zu verringern. Das feiern wir viel zu wenig", sagt sie.
Die EU müsste viele verschiedene Fluchtursachen bekämpfen
Der Wille aus der Politik, ernsthaft in Fluchtursachenbekämpfung zu investieren, sei durchaus da. Deutschland engagiere sich in verschiedenen Ländern. Nachhaltige Erfolge werden jedoch durch äußere Faktoren wie Geografie geschmälert, weil Europa von vielen Ländern umgeben ist, für deren Bewohner es unterschiedliche Fluchtursachen gibt. "Wenn wir in einem Land positive Ergebnisse erzielen, werden diese durch negative Entwicklungen in anderen Ländern wettgemacht", so Victoria Rietig.
Zum anderen verändern sich laut Victoria Rietig Fluchtursachen sprunghaft. Deswegen lässt sich unmöglich vorhersagen, wie sich die Zahlen von Geflüchteten entwickeln. Als Beispiel nennt Victoria Rietig die Klimakrise, die sich auf viele Länder Afrikas auswirkt. "Die Klimakrise ist eine indirekte Fluchtursache, die andere direkte Fluchtursachen wie Kriege anheizt. Genauso wie Not und Armut durch die Klimakrise begünstigt wird, weil Lebensgrundlagen wegfallen", sagt sie. Das sage jedoch nichts darüber aus, ob die Bevölkerung des betroffenen Landes eine Art der Anpassung oder Migration als Lösung wähle.
"Ob eine interne Migration oder eine Migration in Nachbarländer gewählt wird, kann man nicht voraussagen. Welche Form von Anpassung und Migration aus der Klimakrise folgen, wissen wir nicht."
Durch diese Unplanbarkeit der Migration herrsche in Deutschland das Gefühl, dass Fluchtursachenbekämpfung nicht erfolgreich sei. "Die Wahrheit ist, dass Fluchtursachenbekämpfung etwas bewirken kann – aber eben nicht gleichzeitig in all den Ländern, in denen wir es uns wünschen", so Victoria Rietig.