Alle vier Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt. Sarah Bora lebte viele Jahre mit einem Mann, der sie misshandelte. Die Anwältin Christina Clemm vertritt Opfer vor Gericht und sagt, was gegen Frauengewalt hilft.
Er war Sarah Boras erste große Liebe. "Ich bin da so reingeschlittert", sagt sie, "ich war verliebt". Zuerst waren sie Freunde, dann ein Paar. Doch mit der Zeit stellte sich heraus, dass er kontrollsüchtig war und sie mit schlimmster Eifersucht drangsalierte.
Gewalt ist für viele Frauen Alltag
Wenn Sarah an der Uni war, musste sie ihn anrufen, damit er hört, dass sie wirklich dort war. Sie musste ihren Kilometerstand im Auto dokumentieren und ihm Fotos von unterwegs zuschicken. Mein Alltag, sagt Sarah Bora, war geprägt von Konsequenzen und Regeln.
"Auch eine gewalttätige Beziehung fängt mit Liebe an."
Die Zahlen zeigen, dass es vielen, viel zu vielen Frauen so geht, wie es Sarah Bora jahrelang ging. Alle vier Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt, also von Gewalt, die von der Familie oder Beziehung ausgeht. 2023 waren es laut "Bundeslagebild Häusliche Gewalt" des BKA knapp 133.000 Fälle.
Die Statistik zeigt:
- 80 Prozent der Opfer sind Frauen.
- Die Zahl der Taten steigt seit Jahren.
Sarah Bora erlitt in ihrer Beziehung neben psychischer auch körperliche Gewalt. Blaue Flecken versteckte sie unter langen Klamotten. Jahrelang machte sie das mit – bis sie an der Uni eine neue Freundin fand. Endlich war da wieder eine Person, der sich Sarah anvertrauen konnte. Denn ihr soziales Netz, ihre alten Freundschaften und Bezugspersonen, waren zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr da.
"Plötzlich war da jemand, der mir deutlich gesagt hat: Was du da erlebst, ist nicht normal. Du musst da raus."
Als die neue Freundin sie auf die Gewalt in ihrer Beziehung ansprach, leugnete Sarah diese zunächst. "Erst bei der dritten oder vierten Nachfrage habe ich ehrlich geantwortet", erinnert sie sich. "Und dann habe ich einfach losgelegt, weil es so eine emotionale Belastung war, sich vorher aus Angst nicht mitteilen zu können."
Angst, Scham, eingeschränktes Selbstbewusstsein
Angst ist häufig ein Grund, warum Frauen sich nicht trennen, sagt Christina Clemm. Die Fachanwältin für Familien- und Strafrecht vertritt seit vielen Jahren unter anderem Opfer sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt. Außerdem hat sie zwei Bücher über Gewalt gegen Frauen veröffentlicht.
Neben Angst vor Gewalt oder Stalking nach der Trennung spiele auch Scham eine große Rolle – den Opfern werde oft weisgemacht, sie seien selbst Schuld, erklärt Christina Clemm. Dazu kommt ein eingeschränktes Selbstbewusstsein. Doch genau das braucht es, wenn man sich trennen will. Genauso wie finanzielle Mittel und natürlich ein Dach über dem Kopf.
"Es gibt kein typisches Opfer. Häufig erlebe ich eine unglaubliche Verunsicherung bei den Frauen, gerade wenn die Gewalt in der Partnerschaft länger angedauert hat."
Weil die Plätze in Frauenhäusern nicht ausreichen – aktuell fehlen rund 17.000 Plätze (!) – passiert es aber nicht selten, dass Frauen auch in akuten Notsituationen abgewiesen werden, berichtet die Fachanwältin.
Umso wichtiger ist das Gewalthilfegesetz, das Bundesfamilienministerin Lisa Paus auf den Weg bringen will, sagt Christina Klemm. Ob es verabschiedet wird, ist noch nicht sicher (Stand: 13.09.2024). Laut der Fachanwältin würde das Gesetz die Finanzierung von Frauenhausplätzen, Frauenberatungsstellen und von Täterarbeit bundesweit sichern. Das wäre ein enormer Fortschritt.
Gewalt gegen Frauen – auch ein Männerthema!
Für Christina Clemm ist das Gesetz "längst überfällig". Daneben, sagt sie, braucht es aber noch viele andere Bausteine, um dem Problem von häuslicher und/oder gegen Frauen gerichteter Gewalt zu begegnen: "Wir brauchen Geld für große Kampagnen, für Prävention und viel bessere Schutzmöglichkeiten."
"Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, in der es so massiv Gewalt gibt."
Was es außerdem braucht, ist eine Gesellschaft, die für Gleichstellung eintritt und Gewalt nicht hinnimmt, sagt Christina Clemm. Sie appelliert dabei vor allem an die Männer: Diese sollten sich öffentlich mit den Opfern solidarisieren und im Fall der Fälle den Mund aufmachen. Damit es nicht mehr gesellschaftsfähig ist, dass eine Frau Gewalt erfährt und ihr Umfeld schweigt – oder noch schlimmer: den Täter sogar schützt.
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