Die Philosophie Martin Heideggers ist problematisch. Ihre antisemitischen, nationalsozialistischen Inhalte müssen decodiert werden, da der Autor sie teils in seiner Sprache "verhüllt", teils nach dem Krieg verfälscht habe, sagt die Geisteswissenschaftlerin Sidonie Kellerer.
Am 21. April 1933 wird Martin Heidegger Rektor der Universität Freiburg, am 1. Mai 1933 tritt er der NSDAP bei. Er begreift sich als "Führerrektor", begrüßt die nationalsozialistische Umgestaltung der deutschen Universitäten und akzeptiert auch das Gesetz zur "Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom April 1933, wonach alle jüdischen Professoren freigestellt werden.
Seine Nähe zum Nationalsozialismus ist schon lange Anlass für eine kritische Beschäftigung mit seinem Denken. Sidonie Kellerer sieht in seinen Schriften die "Geschichte einer bewussten Irreführung".
"Sein Denken verdient Aufmerksamkeit, weil es für Verwirrung und Irreführung sorgt und kritisches Denken behindert."
Nach 1945 habe Martin Heidegger seine Texte aus den Jahren 1934 bis 1945 als Kritik am NS-Regime (um)interpretiert. Laut Kellerer stellt er diese Texte als Teil seiner Rehabilitierungs-Strategie so dar, als "habe er das Regime zwischen den Zeilen kritisiert". Zudem habe er frühere Texte stillschweigend umgeschrieben.
"Heidegger, der unpolitische, verschrobene, aber arglose Denker – das ist ein Mythos, der auf eine regelrechte PR-Strategie nach dem Krieg zurückgeht."
Nationalistische und antisemitische Anmerkungen Martin Heideggers wurden lange beispielsweise anhand seiner Briefe diskutiert. Als dann im März 2014 die ersten drei Bände von Heideggers "Schwarzen Heften" als Teil der Heidegger-Gesamtausgabe erschienen, mit Texten aus der Zeit des Nationalsozialismus, lagen damit erstmals explizite antisemitische Äußerungen Heideggers vor, im Werk selbst.
Demnach schrieb er 1942 zum Beispiel über "das wesenhaft Jüdische", das den "Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte" markiere. 1946 schrieb er über das deutsche Volk als das Opfer einer Zerstörung, die schlimmer sei als diejenige durch "Gaskammern" – er setzt Gaskammern dabei in Anführungszeichen.
Indirekte Sprache als Leitmotiv
Laut Sidonie Kellerer hat es die Forschung bislang versäumt, neben expliziten Aufzeichnungen, auch Heideggers indirekte Sprache in eine Analyse seiner Philosophie einzubeziehen. Er habe Ideen mit Sprache verhüllt.
"In seinen Heften verweist Heidegger beharrlich auf die Bedeutung des indirekten Sprechens in seinem gesamten Werk. Die Andeutungen zur Notwendigkeit einer strategisch indirekten Sprache sind so zahlreich, dass es mir nicht übertrieben erscheint, von einem Leitmotiv zu sprechen."
So spricht Martin Heidegger in einer 1933/34 gehaltenen Vorlesung vom "inneren Feind", der völlig zu vernichten sei. An anderer Stelle spricht er über das "semitische Nomadentum". Sidonie Kellerer führt weitere Textstellen aus Heideggers Briefen, Vorlesungen und Schriften an, die im Kontext zu betrachten seien. Nur so ließe sich der "identitäre und mithin rassistische" Gehalt seines Denkens heben, das durch scheinbar abstrakte Begrifflichkeiten kaschiert würde.
"Die ambivalente Ausdrucksweise sichert ihm einen Platz im philosophischen Kanon und zugleich lässt sich die politisch rechtsradikale Ideologie unter der Hand weiterverbreiten."
Im Sidonie Kellerers Lesart erscheint Heidegger wie ein von Verfolgungswahn geplagter Verschwörungsideologe. Ihre These: "Die Notwendigkeit der Verhüllung ergibt sich aus der unsichtbaren Allgegenwärtigkeit des Feindes, der umso gefährlicher ist, als er überall und nirgends ist", sagt Kellerer.
Sidonie Kellerer ist Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung am Philosophischen Seminar und bei der a.r.t.e.s. Graduate School der Universität Köln. Ihren Vortrag mit dem Titel "Der Nationalsozialismus wäre schön als barbarisches Prinzip – aber er sollte nicht so bürgerlich sein" (das Zitat stammt aus einem Brief Heideggers vom aus dem Jahr 1936) hat sie am 12. Januar 2023 auf Einladung des Kolloquiums für Sozialphilosophie und Ideengeschichte an der Europa-Universität Vidarina gehalten.