Im Roman "Halbinsel" von Kristine Bilkau geht es um Linn, Mitte zwanzig. Nach einem Zusammenbruch zieht sie zurück zu ihrer Mutter an die Nordsee. Aus einer Woche werden Monate. Und aus dem Kümmern wird ein Kennenlernen.
Annett ist in der Wohnung ihrer Tochter Linn. Die ist gerade einkaufen fürs Abendessen. Dann klingelt es – wahrscheinlich hat Linn nur ihren Schlüssel vergessen, denkt Annett. Sie drückt die Tür auf. Doch sie hört, dass es nicht Linn sein kann, die da heraufkommt. Sie sind zu zweit. Und sie sind zu schnell. Als sie die Wohnungstür öffnet, stehen zwei Männer vor ihr.
Sie würden das Sofa abholen. Sie seien etwas zu früh. Und hätten es eilig. Das Geld sei bereits per Paypal raus, wie vereinbart, 1.000 Euro. Annett weiß davon nichts und versucht, Linn anzurufen. Einmal, ein zweites und ein drittes Mal. Es wundert sie nicht, dass Linn nicht rangeht. Linn geht nie ran. Warum ausgerechnet jetzt?
Linn zieht aus ihrer günstigen Wohnung
Der eine Mann wischt auf dem Display von seinem Handy herum. Annett erkennt das Logo und die Summe. Sie beschließt, den beiden Männern zu glauben. Die sind sofort dabei, das Sofa aus der Wohnung und somit aus Linns altem Leben zu tragen.
Die Wohnung ist genau genommen schon gar nicht mehr Linns Wohnung. Sie hatte den – für Berliner Verhältnisse günstigen – Mietvertrag längst gekündigt. Und der neue Nachmieter konnte es gar nicht abwarten, hier einzuziehen.
Mutter und Tochter begegnen sich trotz Nähe nicht
Linn ist zurück, schwer bepackt mit Einkäufen. Sie sieht natürlich sofort, dass das Sofa weg ist. Annett erzählt ihr von den Männern. Von den 1.000 Euro. Und dass sie hofft, dass das stimmt. Linn lächelt. Das ist ziemlich unglaublich. Denn – man ahnt es ja schon: Es stimmt natürlich nicht, Barzahlung war vereinbart.
"Zwar sprechen sie über das Gleiche, aber verhandeln dabei grundsätzlich verschiedene Dinge."
Das Gespräch in der Berliner Wohnung ist einer von vielen Momenten, in denen Annett und Linn – Mutter und Tochter – sich gegenüberstehen und sich trotz der Nähe zwischen ihnen nicht begegnen. Zwar sprechen sie über das Gleiche, doch sie verhandeln dabei grundsätzlich verschiedene Dinge. Irgendwie so, als lägen da zwei Dimensionen übereinander. Gleicher Ort, gleiche Zeit, gleiches Thema – und trotzdem passt das nicht.
Preis der Leipziger Buchmesse 2025 für "Halbinsel"
Die Schriftstellerin Kristine Bilkau erzählt von Annett und Linn. In ihrem Roman "Halbinsel" beschreibt sie sehr viele Mutter-Tochter-Momente, aus der Perspektive von Annett, und schafft es, dass wir beim Lesen gleichzeitig beide Perspektiven einnehmen. Das ist durchaus bemerkenswert, weil das streng genommen gar nicht geht.
Aber es geht eben doch. Das ist sehr schön. Und auch anstrengend. Harte Arbeit gewissermaßen. Und es erklärt auch, warum der Roman mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämiert wurde.
Anett vermisst es, sich um ihr Kind zu kümmern
"Halbinsel" erzählt von einem Konflikt zwischen einer Mutter und ihrer Tochter in unserer Zeit. Annett ist 49, Linn fast 25, also in dem Alter, als Annett sie geboren hat. Während Annett seit mehr als 20 Jahren im gleichen Haus an der Nordsee wohnt, ohne Johan, ihren Mann, Linns Vater, und genauso lange als Bibliothekarin arbeitet, ist Linn herumgekommen, hat studiert, im Ausland gelebt, Umweltprojekte unterstützt, sich immer gedreht.
Und mit einem Schlag, von einem Tag auf den anderen, ändert sich dieses Familienleben. Linn kollabiert bei einem Vortrag über Aufforstung und CO2- Zertifikate. Zum Erholen zieht sie zur Mutter. Für eine Woche. Annett freut sich. Sie hat es vermisst, sich um ihr Kind zu kümmern. Ihr Kind. Aus der Woche werden Monate. Und aus dem Kümmern wird ein Kennenlernen.
Das Buch:
"Halbinsel“" von Kristine Bilkau, erschienen bei Luchterhand, 220 Seiten, gebundene Ausgabe (Hardcover): 24 €, eBook: 21,99 €, Hörbuch: 17,95 €, gelesen von Isabelle Redfern, Laufzeit: 6 Std. 39 Min., der Hörverlag; ET: 19.03.2025
Die Autorin:
Kristine Bilkau, 1974 geboren, zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Romandebüt "Die Glücklichen" fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit "Nebenan" stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ihr neuer Roman "Halbinsel" wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.