"Fehlstart" heißt das hoch gelobte und ebenso umstrittene Romandebüt der Französin Marion Messina. Deutschlandfunk-Nova-Literatur-Expertin Lydia Herms findet das Buch richtig gut und ist der Meinung, dass etliche Kritikerinnen und Kritiker nicht wirklich kapiert haben, was der Kern des Buches ist: die große Lüge der Chancengleichheit in Frankreich und Europa.
Aurélie steht in schlecht sitzenden Klamotten in einem privaten Studentenwohnheim, mit einem Mikrofasertuch in der Hand, mit dem sie gerade eben noch Schamhaare aus einem der privaten Waschbecken gefischt hat – und beobachtet Alejandro dabei, wie er sie beobachtet.
"Ich bin achtzehn Jahre alt, wohne noch zuhause und studiere das langweiligste Studienfach der Welt. Ich habe kein Geld für einen Haarschnitt und hatte erst zweimal Sex. Niemand erinnert sich an mich. Und jetzt kommst du!"
Alejandro ist in Frankreich gelandet, um dort zu studieren, wo seine großen literarischen Vorbilder herkommen. Seine Eltern sind wohlhabend und würden ihm jederzeit Geld aus Kolumbien überweisen, aber der junge Dichter hat sich in den Kopf gesetzt, es allein zu schaffen.
Aurélie hingegen kommt aus anderen Verhältnissen. Sie hätte viel lieber Literatur studiert. Stattdessen macht sie Jura, quält sie sich durch dröge Vorlesungen von Dozenten auf Valium und fühlt sich von allen übersehen. Sie wohnt noch immer zu Hause, in ihrem alten Kinderzimmer mit peinlichen Postern an der Decke. Und für ein lachhaft geringes Honorar putzt sie Klos für die künftige Elite im Land.
Es geht um Klassen. Um Abhängigkeiten. Um Privilegien.
Die einen vergleichen "Fehlstart" mit Büchern von Michel Houellebecq, weil es doch auch so pessimistisch und voller Sex-Szenen sei. Die anderen beklagen, dass ihnen bei der Lektüre das Gehirn eingeschlafen sei, weil es immer nur um die langweilige Liebesbeziehung zwischen der enttäuschten 18-jährigen Französin Aurélie und dem dauer-angespannten, fünf Jahre älteren Kolumbianer Alejandro gehe.
"Und wieder ganz andere haben richtig erkannt, dass weder Pessimismus noch Sex noch Langeweile die entscheidenden Themen in diesem Buch sind", sagt Lydia Herms, Deutschlandfunk-Nova-Literatur-Expertin, "Thema ist die große Lüge der Chancengleichheit in Frankreich und Europa, das verlogene Versprechen, dass jede und jeder alles werden kann, egal, welchen familiären, kulturellen oder finanziellen Verhältnissen sie oder er zu entspringen versucht."
Das Buch
"Fehlstart" (OT: "Faux départ") von Marion Messina, aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Claudia Steinitz. Hanser, 166 Seiten, gebundene Ausgabe (Hardcover): 18 Euro, E-Book: 13,99 Euro; Erscheinungstag: 27.01.2020.