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Eine beiläufig erzählte Szene in der S-Bahn steht am Anfang einer sehr verrückten Geschichte. "Drifter" von Ulrike Sterblich.

Und da sitzt sie. In der S-Bahn. Wenzel sieht sie nicht einfach nur, sondern sie erscheint ihm. Später wird er nicht sagen können, was ihm an ihr als erstes aufgefallen war. Das lange goldene Kleid, darüber ein schwarzes Jackett, ihre Frisur, ihr Blick, das riesige zottelige Wesen zu ihren Füßen, das wohl am ehesten einem Hund ähnelt – oder das Buch, in dem sie herumblättert? Von allem ein bisschen. Oder: Das Gesamtpaket.

Wenzel und Killer sind unterwegs zur Pferderennbahn. Es gibt was zu feiern. Killer ist befördert worden. Zum PR-Chef. Und Wenzel freut sich für ihn. So, wie er sich schon immer für seinen Freund gefreut hat, wenn der sich freut. Abgesehen von ein paar neidvollen Momenten vielleicht, wenn plötzlich mal ein anderer Junge in Killers Kinderzimmer saß, zum Beispiel. Das ist ewig her. Jetzt sind die Kinderzimmerfreunde groß, wohnen in Erwachsenenwohnungen und machen Erwachsenensachen.

"Da grenzt es an ein Wunder, dass ihn plötzlich nicht nur der Hund anguckt, sondern auch sie."
Lydia Herms, Deutschlandfunk-Nova-Rezensentin

Beste Freunde sind sie immer noch. Darum konnte Wenzel nicht nein sagen, als Killer vorschlug, Geld auf rennende Vierbeiner zu setzen. Und es zu verlieren. Wenzel ist maximal verwirrt. Er verrenkt sich den Hals. Und die Augen auch. Starren, ohne dabei ertappt zu werden, ist sehr anstrengend. Die goldene Erscheinung, diese Person, liest ein Buch, das es nicht gibt. Also: Wenzel würde es wissen, denn er hat alle Bücher von K:B Drifter gelesen. Es sind drei: "Hätte ich was zum Anziehen, würde ich gern mal ausgehen", "Endlich zeigst du dein wahres Gesicht, Kassierer" und "Der Shitstorm gegen die heilige Johanna".

Die Bahn fährt ab

Wie kann ausgerechnet ihm entgangen sein, dass sein Lieblingsautor ein viertes Buch namens "Elektrokröte“ veröffentlicht hat? Er muss es tun, auch wenn es ihm sehr unangenehm sein wird: Er muss die Frau in Gold danach fragen, denkt sich Wenzel, als Killer ihn auch schon ruft, sie müssten aussteigen.

Da grenzt es an ein Wunder, dass ihn plötzlich nicht nur der Hund anguckt, sondern auch sie. Zumindest mit dem einen Auge. Das andere guckte woanders hin. Ein Silberblick. Sie lächelt nicht oder so. Sie guckt nur. Und dann hebt sie die Hand, in dem Moment, in dem Wenzel aus der Bahn springt. Sie hebt die Hand, streckt einen Finger aus und zeichnet damit etwas in die Luft. Wenzel steht draußen. Die Bahn fährt ab. Und er ist sich ganz sicher: Es war ein Blitz.

Diese beiläufig erzählte Szene in der S-Bahn steht am Anfang einer sehr verrückten Geschichte. Hat man sie gelesen, fühlt es sich aber nicht so an, als wäre es ein Anfang.

Das Buch: "Drifter" von Ulrike Sterblich, Rowohlt Hundert Augen, 288 Seiten, gebundene Ausgabe (Hardcover): 23 Euro, E-Book: 17,99 Euro; ET: 18.07.2023

Die Autorin:
Ulrike Sterblich, Politologin und Autorin aus Berlin, lebt in ihrer Heimatstadt, wo sie auch als Gastgeberin der Talk- und Lesebühne "Berlin Bunny Lectures" bekannt wurde. 2012 erschien ihr erfolgreiches Mauerstadt-Memoir "Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt", über das Wolfgang Herrndorf urteilte: "Zarter, liebevoller, staunender wurde selten eine Jugend, eine Stadt und beider Verschwinden beschrieben." 2021 veröffentlichte Ulrike Sterblich ihr vielbeachtetes Debüt "The German Girl".

Shownotes
Das perfekt Buch für den Moment ...
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vom 23. Juli 2023
Autorin: 
Lydia Herms