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Alte Frau, junger Mann, der Papagei und ein bisschen Gras: Mit diesen Elementen spielt die Schriftstellerin Sigrid Nunez in ihrem Roman "Die Verletzlichen" – und siehe da: es passt.

Was muss passieren, damit eine Frau jenseits der sechzig und ein Mann Anfang zwanzig, die sich bisher konsequent aus dem Weg gegangen sind, jetzt kichernd im Wohnzimmer auf zwei Sofas herumliegen, während ein großer, leuchtend grüner Papagei auf dem Beistelltisch hockt und die beiden Kichernden fragend beäugt?

Corona macht sozial

Sie recherchieren unnützes Wissen über diese oder jene Eissorte, analysieren dann Redewendungen, weil es draußen Katzen und Hunde regnet, und fragen sich, was sie einen Hund fragen würden, wenn es möglich wäre, einem Hund eine Frage zu stellen. Und zwischendurch lachen sie, bis ihnen die Bäuche wehtun.

"Diese beiden Menschen besprechen ernsthaft, welche Soße besser zu Hafermilch-Karamell-Eis mit Bananen und Walnüssen passe: Honig, Ahornsirup oder Schokoladensoße?"
Lydia Herms, Deutschlandfunk-Nova-Buchrezensentin

Sie und er – und der Papagei – befinden sich in Isolation. Während eines Lockdowns, mitten in der Corona-Pandemie, in New York. Sie wurde gebeten, für den Papagei zu sorgen, bis die Besitzerin wieder in ein Flugzeug steigen und nach Hause kommen kann. Und er stand eines Morgens plötzlich barfuß und in Trainingshose in der Küche.

Er sei ein guter Junge

Sie ist wenig begeistert. Sie will ihre Ruhe. Sie will dem Papagei beim Spielen zusehen, sich ihren traurigen Gedanken und Träumen hingeben und vielleicht ihre Schreibblockade überwinden. Sie will keine Rücksicht nehmen. Egal auf wen. Ihre Vorbehalte gegen den jungen Mann sind groß, aber ihr Bemühen, ihn aus der Bude zu kriegen, bleibt ohne Erfolg. Er ist der Sohn einer Freundin der Wohnungsbesitzerin – und deren Beteuerungen nach: ein guter Junge.

Sie bezweifelt das. Auch wenn er hinter sich aufräumt. Auch wenn er mit dem Papagei auf der Schulter durch die Wohnung läuft, als würden sie sich bereits seit Jahren kennen. Auch wenn er gut kocht und immer etwas für sie übriglässt, was er ihr dann gut verpackt in den Kühlschrank stellt. Es interessiert sie nicht.

Jugend ohne Ordnung

Der Roman "Die Verletzlichen" von der US-amerikanischen Schriftstellerin Sigrid Nunez ist ungewöhnlich. Er klingt manchmal nicht wie ein Roman, sondern wie ein ziemlich langer Essay über das Schreiben – oder Nichtschreiben – im Ausnahmezustand, manchmal wie ein Memoire, in dem sich an sehr Vieles erinnert und Vieles auch wieder vergessen wird

"Manchmal klingt dieses Buch wie ein Haufen Notizen auf losen Zetteln, die durch einen heftigen Windstoß durcheinandergeraten sind."
Lydia Herms, Deutschlandfunk-Nova-Buchrezensentin

Wochen später verlässt der junge Mann die Wohnung auch genauso plötzlich wieder. Den Papagei nimmt er mit. Der hat, anders als die beiden menschlichen Hauptfiguren, übrigens einen Namen: Eureka. Eureka spricht nicht viel, und wenn, dann eher mit sich selbst, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Einmal erschrickt er so heftig, als er angesprochen wird, dass er sich empört umdreht, der Störerin seinen Rücken zukehrt – und kackt.

Erst das Gras, dann das Eis

Sie dulden sich also. Gehen sich aus dem Weg. Angenehm ist es nicht. Wer einmal mit jemandem zusammengewohnt hat, weiß das. Man kann sich nicht unsichtbar machen. Wer da ist, ist da. Sie zieht sich immer mehr zurück, kaut Erinnerungen durch, Gespräche, Begegnungen, Verluste. Da hat sich einiges angesammelt in den sechzig Jahren.

Die amerikanische Schriftstellerin Sigrid Nunez
© Marion Ettlinger
Die amerikanische Schriftstellerin Sigrid Nunez

Er schläft auf dem Dach des Haues. Sie schläft schlecht, träumt von Donald Trump, vom Elend auf der Welt. Manchmal weint sie. Eines Tages bietet ihr der junge Mitbewohner Gras an. Gegen ihre Albträume und gegen ihre Angst. Sie probiert es. Und irgendwann essen sie Eis zusammen, und kiffen, und lachen, auf den Sofas liegend, beäugt vom Papagei. Und dann ist es plötzlich da: das Interesse füreinander.

Das Buch
"Die Verletzlichen" (Englischer Titel: "The Vulnerables") von Sigrid Nunez, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Anette Grube, Aufbau Verlag, 221 Seiten, Hardcover: 22,- Euro, eBook: 16,99 ein Hörbuch gibt es auch; Erscheinungstermin: 15.01.2024.

Die Autorin

Sigrid Nunez ist eine der beliebtesten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Für ihr viel bewundertes Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Für "Der Freund" erhielt sie 2018 den National Book Award und erreichte international ein großes Publikum, es wurde auch im deutschsprachigen Raum ein Bestseller. Sigrid Nunez lebt in New York City.

Shownotes
Das perfekte Buch für den Moment…
…wenn du dich in einem Menschen geirrt hast
vom 22. September 2024
Autorin: 
Lydia Herms, Deutschlandfunk-Nova-Buchrezensentin