In Valerie Bäuerleins Romandebüt "Die Unvollständige" streift eine namenlose Erzählerin auf der Suche nach einer verlorenen Freundin durch Berlin.
Eine junge Frau sitzt ihr gegenüber in der S-Bahn. Sie liest ein Buch. Wirkt ganz versunken in den Text. Sie ist eine Fremde, und doch strahlt sie etwas Vertrautes aus. Sie weckt Erinnerungen an Tala. Und gleichzeitig ist nichts an ihr so wie bei Tala – allenfalls die Art, wie sie eine Seite umblättert.
Die junge Frau kümmert es nicht, dass sie gesehen und verglichen wird mit einer anderen, ihr vermutlich fremden Frau. Obwohl Tala überraschend viele Menschen in Berlin gekannt hat. Aber sie ist nicht hier. Tala ist tot.
Mit diesem nüchternen und unumstößlichen Fakt beginnt der erste Roman von Valerie Bäuerlein.
"Es ist keine, sagen wir, klassische Geschichte, also eine mit einem Anfang und einem Ende. Es ist eine Reise."
Eine namenlose Erzählerin streift durch Berlin – mal zu Fuß, mal in der Bahn, mal am Tag, mal in der Nacht. Es ist kein verzweifeltes Herumirren, aber auch kein Weg, der irgendwie zu einem Ziel führen soll. Außer vielleicht zu dem Ziel, möglichst weit weg zu sein von vertrauten Orten, die sie mit Tala verbindet.
Wer war Tala?
Tala war eine Schauspielerin. Sie konnte allein durch ihren Gesichtsausdruck, ihre Körperhaltung oder Bewegung eine Welt auftun und begeistern. So hat sie auch die namenlose Erzählerin begeistert, damals noch Studentin an der Film-Akademie. Tala lief in einer petrolfarbenen Kimonobluse durch einen Laden. Und schon war der Laden eine Bühne.
Tala würde die perfekte Darstellerin für ein kleines Filmprojekt sein, das wusste die Namenlose sofort. Und sie wäre auch die perfekte Darstellerin für einen Kinofilm. Also hinterließ sie beim nächsten Besuch ihre Telefonnummer. Und Tala rief zurück. So lernten sie sich kennen.
Tala ist auf Reisen
Tala erzählte viel, aber nie alles. Sie wusste unglaublich gut über Berliner Orte Bescheid. In welchem Gebäude die Nationalsozialisten was mit wem gemacht hatten, zum Beispiel. Sie konnte gut beschreiben. Und auf ihren Streifzügen durch die Stadt, in den Tagen nach Talas Tod, da stellt sich die Namenlose vor, wie es wäre, wenn Tala genau jetzt neben ihr stünde.
Wo Tala jetzt ist, weiß die Namenlose nicht. In ihren Erinnerungen ist die Freundin lebendig. Und auch in den Briefen, die Tala ihr von ihrer letzten großen Reise durch Asien und Osteuropa geschrieben hatte. Selbst auf dem Video, dass Tala für sie unterwegs aufgenommen hat, das abrupt mit einem Rauschen endet…
Das Buch: "Die Unvollständige" von Valerie Bäuerlein, Kjona Verlag, 152 Seiten, gebundene Ausgabe (Hardcover): 22 €, E-Book: 16,99 €; ET: 21.08.2023