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Die Hauptfigur in Patrick Süskinds Novelle "Die Taube" ist der Wachmann Jonathan Noel. Er folgt einem strikten, immer gleichen Tagesablauf. Bis ihn eines Tages eine Taube auf dem Hausflur anstarrt. Dadurch ändert sich alles.

Nur gut einhundert Seiten lang ist die Novelle "Die Taube" des Schriftstellers und Drehbuchautors Patrick Süskind, der vielen von uns durch seinen Weltbeststeller und verfilmten Roman "Das Parfüm" bekannt ist. Sein Buch handelt von einem Wachmann namens Jonathan Noel.

Seit dreißig Jahren bewacht er als Wachmann eine Bank in Paris. Das heißt, er assistiert morgens beim Aufschließen, abends beim Abschließen – und mindestens zweimal am Tag öffnet er ein Gatter für die Limousine des Bankdirektors.

In den langen Stunden dazwischen steht er still und starr vor dem Eingang der Bank. Manchmal läuft er die Stufen ab, sieben Schritte nach links, sieben Schritte nach rechts. Dabei achtet er auf nichts. Das ist seine Stärke.

"Er kennt jedes Geräusch auf dem Stockwerk. Er kann jedes noch so leise Knacken, Klicken, Plätschern oder Rauschen zuordnen. Denn wie jeden Morgen will er es unbedingt vermeiden, jemandem auf dem Gang zu begegnen."
Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Lydia Herms über die Novelle "Die Taube" von Patrick Süskind

Er lässt sich weder ablenken noch aus der Ruhe bringen – bis zu diesem Tag. An diesem Tag beginnt der Morgen für Jonathan schon mit einem furchtbaren Schrecken. Nach dem Aufstehen, auf dem Weg zum Etagenklo im Hausflur, vermeidet er unter allen Umständen anderen Hausbewohnern zu begegnen.

Auch an diesem Morgen gelingt ihm das, aber eine Taube sitzt im Flur und starrt Jonathan Noel unverhohlen an. Das jagt dem Wachmann, der jeden Tag einem genauen Ablauf und einem genauen Zeitplan folgt, einen immensen Schrecken ein. Er glaubt für einen Moment, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat.

"Nur einmal in all den Jahren ist es passiert, dass sich er und ein Nachbar vor dem Etagenklo begegnet sind. In ihren Hausschuhen, und Schlafanzügen, und Bademänteln. Das durfte nie wieder passieren. Hinzu kommt, dass Jonathans Morgen einem festen Ablauf folgt."
Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Lydia Herms über die Novelle "Die Taube" von Patrick Süskind

Die Taube bringt den Wachmann aus dem Tritt

Ein Tag der fürchterlich beginnt, nimmt seinen Lauf. Jonathan Noel versagt in allem, was er tut. Es gelingt ihm nicht länger vor dem Bankgebäude stillzustehen. Er achtet plötzlich auf alles um sich herum. Er verspürt plötzlich den Drang mit jemandem zu reden. Er spürt auf einmal so viel Emotionen wie noch nie zuvor: Wut und Scham, Verzweiflung und Hass.

Und er sieht sich selbst obdachlos in zerschlissenen Kleidern in einem öffentlichen Park auf einer Bank billigen Wein trinken. Und all das, die Verzweiflung, die Angst vor dem Chaos wegen einer einzigen, harmlosen Taube? Bei der Beantwortung dieser Frage werden aus gut einhundert Seiten plötzlich ein ganzes Leben. Mit wenigen Sätzen reisen wir in Jonathan Noels Kindheit – und verstehen auf einmal alles.

Das Buch:

Die Taube“ von Patrick Süskind, Diogenes, gut 100 Seiten, Erstausgabe erschien im Jahr 1987, Taschenbuch: 11 €, E-Book: 8,99 €; ET: 24.04.1990

Shownotes
Das perfekte Buch für den Moment...
…wenn du dich kein bisschen erwachsen fühlst
vom 24. September 2023
Autorin: 
Lydia Herms, Deutschlandfunk Nova