April 1976, vor einer Karibikinsel: Der junge Fischer David trifft die Meerjungfrau Aycayia. Zwei Liebende, zwei Welten. In "Die Meerjungfrau von Black Conch" erzählt Monique Roffey aus weiblicher Sicht eine der ältesten Geschichten der Literatur.
Manchmal traut sie sich dichter heran. Und dann schauen sie sich richtig an. Er sie. Sie ihn. Sie sind beide immer wieder aufs Neue überrascht. Was er wohl in ihr sieht? Sieht er die, die sie früher mal war, oder nur die, die sie jetzt ist?
"Er ist wieder da und spielt auf der Gitarre. Der junge Fischer, in seinem Boot. Sie hört sein Lied, versteht seine Sprache aber nicht. Es klingt schön. Und ein wenig auch vertraut. Für wen er wohl singt?"
Er sieht ihr Gesicht. Die rote Haut ist ganz zart. Er sieht ihre Augen. Sie leuchten silbrig. Er sieht ihre Dreads. Sie sind voller Seetang und Stacheln. Und er sieht die vielen, feinen, glänzenden Schuppen überall auf ihrem Körper, auf ihren Armen, auf ihren Brüsten, auf ihrem Schwanz.
Aycayia – ihr Name bedeutet "Süße Stimme" – ist halb Frau, halb Fisch. Als würde ihr zarter Frauenkörper direkt aus ihm herauswachsen. Ob er sieht, wie stark und gleichzeitig wie schwach der Schwanz sie macht?
Der Mythos der Meerjungfrau
Vom wundersamen Wesen Aycayia erzählt die aus Trinidad stammenden Schriftstellerin Monique Roffey in ihrem wunderschönen und gleichzeitig sehr traurigen Roman "Die Meerjungfrau von Black Conch". Aycayja gehört zu den Taino. Sie ist eine der letzten dieses indigenen Volkes. Einst aus Südamerika in die Karibik gekommen, sind inzwischen alle anderen Taino tot. Sie sind an eingeschleppten Krankheiten gestorben oder von den spanischen Besetzern ermordet worden. Aycayia hat nur überlebt, weil sie die Insel verlassen musste.
"Aycayia wurde als Nixe ins Meer verstoßen, gemeinsam mit der Ältesten aus dem Dorf – in Gestalt einer riesigen, alten Lederschildkröte."
Ein Fluch lastet schwer auf ihr. Die Frauen in ihrem Dorf ertrugen ihre Freiheit, ihre Schönheit und ihre Stimme nicht. Sie hatten Angst, ihre Ehemänner würden sie verlassen. Sie hatten Angst, weniger Wert zu sein – und verstießen Aycayia als Nixe ins Meer, gemeinsam mit der Ältesten aus dem Dorf – in Gestalt einer riesigen, alten Lederschildkröte. Von da an war Aycayia auf sich gestellt. Sie war umgeben von Schönheit, von Korallen und Delphinen, von Kraken und Fischen, und doch ganz allein.
Eines Tages entdeckt sie David, den Fischer, der gern für sich allein ist, der sein Ding macht, ein bisschen singt, ein bisschen raucht, ein bisschen fischt, nur so viel, wie er braucht. Und seine entspannte Art gefällt ihr. Deswegen kommt sie immer wieder. Er hält Abstand zu ihr und macht keine Anstalten sie zu fangen. Oder zu verraten. Deswegen vertraut sie ihm allmählich.
Aycayia wird gefangen
Und vielleicht genau deswegen gerät sie in die Falle… Aycayia hört das Motoren-Brummen, aber als sie erkennt, dass es nicht Davids kleine Piroge ist, ist es schon zu spät und sie zu nah. Plötzlich gerät ein Angelhaken in ihre Kehle. Und die Männer am Ende der Angel lassen sie nicht frei. Aycayia kämpft. Sie ist sehr stark. Aber die Männer sind stärker. Ausgerechnet zwei Weiße, zwei Angeltouristen aus den USA, holen sie aus dem Wasser. Sie haben Dollarzeichen in den Augen und Beulen in den Unterhosen.
David ist entsetzt, als er davon erfährt, als er Aycayia an Land sieht, halbtot, blutend, nackt und kopfüber aufgehängt wie eine Beute. Einer der Männer hat seine Zigarette an ihrem schuppigen Bauch ausgedrückt. Ein anderer hat sie in die Brustwarzen gekniffen. Und sie haben alle geglotzt. David beschließt, die Meerjungfrau zu befreien und ins Meer zurückzubringen.
Doch bevor er dazu kommt, passiert etwas Seltsames. Sie verliert ihren Fischschwanz – und er sein Herz…
Das Buch
"Die Meerjungfrau von Black Conch" (OT: "The Mermaid of Black Conch", 2020) von Monique Roffey, Tropen Verlag, 240 Seiten