Célines älteste Tochter Anita geht mit einer NGO in das "Land der Kindheit". Zufall? Oder ist ihre Tochter einem Familiengeheimnis auf die Schliche gekommen? Céline schreibt ihrer Tochter einen Brief, um sie über "Die Leben unter deinem" aufzuklären. Mérine Céco erzählt über Familientrauma und Identität, über Migration und Vergangenheitsbewältigung.
Céline nimmt Anitas Brief wieder in die Hände. Sie weiß, dass sie es noch nicht überstanden hat, dass Anitas Zorn auch auf den nächsten Seiten wüten wird. Sie weiß das, weil sie ihre Tochter versteht, sie und ihre Gefühle. Und es trifft sie, was Anita schreibt. Es trifft sie hart. Es trifft sie, weil sie selbst, Céline, Anitas Mutter, eine Mitschuld daran trägt, was gerade jetzt und hier passiert.
"Wer bist du, Mama? Wer bist du wirklich?"
"Die Leben unter deinem" von Mérine Céco erzählt die Geschichte von Céline und dem Geheimnis ihres Lebens. Es ist der erste Roman der aus der Karibik stammenden Schriftstellerin Céco, der aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt wurde.
Er bringt Welten zusammen, die durch Gewalt getrennt wurden – und bis heute sind. Er erzählt von der Flucht vor der eigenen Vergangenheit, durch Migration in ein Land so weit weg wie nur möglich, und dem Wunsch, dort irgendwie „ein ganz normales Leben“ führen zu dürfen – unbehelligt von dem, was mal war. Wer sie
mal war.
Angst vor der Vergangenheit
Céline versucht das, indem sie ihren Kindern die Freiheiten gibt, die sie selbst nie hatte. Sie sollen alles denken, sagen, fragen und machen dürfen. Sie spricht nicht mit ihnen über ihre Hautfarbe, die nicht weiß ist, weil sie nicht will, dass Anita und Karl sich darauf reduziert fühlen.
Andererseits glättet sie Anita die krausen Haare mit der Begründung, das sei einfacher zu pflegen. Sie bringt ihnen nicht ihre eigene Muttersprache bei und zeigt ihnen keine Fotos von ihren Großeltern und Urgroßeltern. Sie stellt erleichtert fest, dass die Kinder nicht nachfragen und redet sich ein, sie hätten kein Interesse an den alten Geschichten. Aber sie erkennt an dem Schmerz in ihrem Inneren, dass das nicht stimmt.
Und als Anita sie verlässt, weiß sie, dass der Tag gekommen ist, an dem sie zurücksehen und sich ihrer Angst stellen muss. Also schreibt sie Anita, ganz altmodisch, einen langen Brief. Ein Geständnis. Sie weiß, es wird ihre Tochter schockieren. Und das tut es. Aber nicht so, wie Céline es erwartet.
Das Buch
"Die Leben unter deinem" (OT: "D’autres vies sous la tienne", 2019) von Mérine Céco, aus dem Französischen von Peter Trier, erschienen bei Litradukt,
211 Seiten, Softcover: 14 Euro, ET: 20.03.2020
Die Autorin
Mérine Céco, geboren 1970 auf Martinique, studierte Philosophie und Literatur, promovierte in Sprachwissenschaften und erhielt eine Professur an der Université des Antilles-Guyane, deren Rektorin sie wurde. Als solche klärte sie einen Finanzskandal auf. Die Vorgänge an der Universität, die sie auf den Antillen zu einer Berühmtheit machten und sie zeitweilig dazu zwangen, Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, verarbeitete sie in dem Schlüsselroman "Le talisman de la présidente" (2018), der sie als Schriftstellerin bekannt machte. Mittlerweile lehrt sie an der Sorbonne.