Wie viele Menschen starben beim Genozid an den Jesiden? 5.000, 8.000, 10.000? Keiner weiß es genau. Zehn Jahre ist das jetzt her. Die Autorin Ronya Othmann hat einen Roman gegen das Vergessen geschrieben.
Es ist ein verregneter Tag. Die namenlose Erzählerin hat sich in eine Bibliothek zurückgezogen. Sie sitzt mit dem Rücken zum Fenster, sie sieht den Regen nicht. Stattdessen schaut sie auf den Bildschirm ihres Laptops, der auf ihren Knien ruht.
Hier ist es so still, wie es nur in Bibliotheken still sein kann, wo viele Menschen gemeinsam ihre Zeit verbringen, um zu lesen und zu schreiben, um nachzudenken, um die Regale nach Büchern abzusuchen oder um ein paar Stunden im Trockenen zu schlafen.
Ein bewegender Roman über den Völkermord an den Jesiden
Auf dem Bildschirm ihres Laptops erscheint die Suchmaske des Online-Katalogs der Bibliothek. Sie schreibt Stichwörter hinein: Islamismus, Terrorismus, Terror, Völkermord, Genozid. Und: Islamischer Staat, ISIL, ISIS, Daesh. Sie tippt Êzîden, Jesiden mit S, Jeziden mit Z, Yezidi mit Y...
Die Bücher, die ihr angezeigt werden, sucht sie in den Regalen. Sie geht von Reihe zu Reihe. Die Bücher, die nicht dort stehen, merkt sie vor oder bestellt sie über die Fernleihe. Bevor sie mit dem Stapel Bücher zur Selbst-Ausleihe geht, lädt sie sich am Laptop PDFs, eBooks und Aufsätze herunter, alles, was ihr angeboten wird, und alles, was ihr wichtig erscheint. Sie will verstehen. Sie sucht nach Antworten, nach Gründen und nach Belegen.
"Je mehr Zeit vergeht, desto mehr legt sich der Mantel des Schweigens und Vergessens über das Massaker."
Die Erzählerin in Ronya Othmanns Roman "Vierundsiebzig" sucht auch nach Büchern, weil sie selbst keine Worte hat für das, was passiert. Weil sie nachts nicht schlafen kann – im sicheren Bett irgendwo in Deutschland, während tausende Kilometer entfernt die verbliebenen Männer des Dorfes der eigenen Großeltern in selbstgebauten Schützengräben ausharren und bewachen, was überhaupt noch bewacht werden kann: Mandelbäume, Familiengräber und Heiligtümer.
Fast manisch sucht sie nach Beschreibungen von und Erklärungen für ein Ereignis, für das jedes uns bekannte Wort falsch ist. Fast kommt es ihr so vor, als suche sie nicht nur nach den richtigen Wörtern, sondern auch nach einer Sprache.
Die Frage nach den Gründen
Sie stellt auch die Frage nach dem Warum – aber immer ohne Fragezeichen. Es gibt ja eigentlich kein Warum. Es gibt nur das, was da ist: eine Volksgruppe, die systematisch vernichtet wird – und zu der sie gehört. Die Jesiden.
Seit Jahrhunderten werden sie weniger. Es gibt keine jesidische Familie auf der Welt, in der nicht jemand umgebracht wurde. Zuletzt im kurdischen Shingal, im Norden des Irak, am 3. August 2014. Ein Völkermord, der vierundsiebzigste, verübt durch die islamistische Terror-Organisation IS.
"Die namenlose Erzählerin im Roman „Vierundsiebzig“ ist Othmann selbst."
Die namenlose Erzählerin im Roman "Vierundsiebzig" ist Ronya Orthmann selbst. Sie dokumentiert, wie und was ihre Erzählerin dokumentiert – aus doppelter Distanz. Unklar bleibt, in welcher Rolle sie die Fakten zusammenträgt. Als Journalistin? Als deutsche Nachfahrin kurdischer Jesid*innen? Als politische Aktivistin oder als Künstlerin? Oder vielleicht eher als Wissenschaftlerin und Protokollantin?
So oder so ist das, was sie auf fünfhundert Seiten zusammenträgt, ein unfassbares Dokument, findet unsere Rezensentin Lydia Herms, ein literarisches Denkmal für eine Volksgruppe, die immer kleiner wird. Kein einfacher Stoff, aber ein beeindruckender und lesenswerter Roman, ein wichtiges Buch.
"Das ist kein Buch für die Hängematte im Urlaub. Das ist ein Buch fürs Leben."
Das Buch
"Vierundsiebzig" von Ronya Othmann | Rowohlt Verlag | 501 Seiten | Gebundene Ausgabe (Hardcover): 26 Euro eBook: 21,99 Euro, leider kein Hörbuch | Erscheinungstag: 12. März 2024
Die Autorin
Ronya Othmann, als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters 1993 in München geboren, schreibt Lyrik, Prosa und Essays und arbeitet als Journalistin. Für ihr Schreiben wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Lyrik-Preis des Open Mike, dem MDR-Literaturpreis und dem Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik. Für "Die Sommer", ihren ersten Roman, erhielt sie 2020 den Mara-Cassens-Preis, für den Lyrikband "die verbrechen" (2021) den Orphil-Debütpreis, den Förderpreis des Horst-Bienek-Preises sowie den Horst-Bingel-Preis 2022. Ein Auszug aus "Vierundsiebzig", ihrem zweiten Roman, wurde 2019 mit dem Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs ausgezeichnet.