Die Digitalisierung hat die Grenze zwischen Privatsphäre und politischer Öffentlichkeit verwischt. Das ist ein Problem für moderne liberale Demokratien. Ein Vortrag der Rechtswissenschaftlerin Marietta Auer.
Lange Zeit gab es in bürgerlichen liberalen Demokratien einen unausgesprochenen Wertekonsens: Manche Themen gehören in die politische Öffentlichkeit, andere nicht – sie sind privat und jede einzelne Person kann eigenständig entscheiden, wie sie in diesen privaten Angelegenheiten vorgeht und handelt. Doch mit diesem Konsens ist es vorbei, sagt Marietta Auer.
"Die Liberalismusbedingung heißt: Für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft sollte es einen Bereich geben, in dem politische Entscheidungen ausgeschlossen sind, in dem sie also ausschließlich selbst das Sagen haben."
Marietta Auer ist Direktorin des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt am Main. Es ist ein wesentlicher Bestandteil von Demokratien, sagt Marietta Auer, dass es Bereiche gibt, über die in der Gesellschaft verhandelt wird. Das sind die politischen Bereiche einer Gesellschaft. Dazu gehört bei uns zum Beispiel die Frage, ob der Staat ein anderes Land mit Waffen unterstützt oder nicht.
Wer bestimmt die Grenze zwischen privat und öffentlich?
Zu jeder liberalen Demokratie gehört es aber auch, dass es Bereiche gibt, über die die Individuen völlig selbstständig und alleine entscheiden können und dürfen. Zum Beispiel, in welcher Farbe wir unser Schlafzimmer streichen oder ob wir Vanille- oder Erdbeereis essen. Das ist der Bereich des Privaten.
"Die Struktur des liberalen Paradoxons – des einen private Freiheit ist des anderen öffentliches Ärgernis – ist konstitutiv für die Verfassung der westlichen liberalen Demokratien und sie werden mit ihm stehen oder fallen."
Doch wie entscheiden wir, was öffentlich ist und was privat? Gehört es zum Beispiel auch zur Privatsphäre, wenn ich in meinem Schlafzimmer Cannabis konsumiere? Wo genau die Grenze zwischen privat und öffentlich verläuft, dazu gibt es in liberalen Demokratien keine Entscheidungsregel, sagt Marietta Auer.
Das nennt sie das liberale Paradoxon. Dieses Paradoxon ist an sich nicht neu. Schon immer wurde diese Grenze in Demokratien gezogen, verschoben und wieder neu gezogen. Oft geschah das unausgesprochen.
"Die Situation, vor der wir jetzt stehen, ist, dass diese Unterscheidungsfunktion öffentlich versus privat durch die digitale Aushöhlung des Gegensatzes von öffentlicher und privater Sphäre als solche immer weniger funktioniert."
Heute aber stehen wir vor einer neuen Herausforderung: Durch die neuen digitalen Techniken sind Informationen und Wissen über jedes Individuum in so großem Maße und so vollständig jederzeit verfügbar, wie es das noch nie gab.
Zugleich gibt es keinen unausgesprochenen Wertkonsens mehr darüber, wie wir leben wollen. Die Vorstellungen, wie wir gut und richtig leben, gehen in der Bevölkerung weit auseinander, sagt Marietta Auer.
"Die liberalen Demokratien des Westens müssen sich, ob sie das wollen oder nicht, in dieser gravierend gewandelten Informationskultur neu ausrichten, sie müssen sich dazu verhalten."
Das ist ein schwerwiegendes strukturelles Problem für liberale Demokratien. Ihr Überleben hängt davon ab, neue Wege zu finden, mit diesem Paradoxon umzugehen, argumentiert Marietta Auer in ihrem Vortrag. In einer sich stark wandelnden Informationskultur müssen wir uns darüber einigen, was in den Bereich dessen fällt, was wir öffentlich verhandeln wollen und was nicht.
Der Vortrag
Marietta Auer ist Professorin für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Direktorin des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie. Ihr Vortrag hat den Titel "Aporien moderner Entscheidungsfreiheit: Liberales Paradoxon und liberal konditioniertes Subjekt". Sie hat ihn am 20. Juni 2024 an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten im Rahmen der Mosse-Lectures 2024, die das Thema haben "Dramen des Entscheidens"