Victoria Linnea ist freie Lektorin und hat sich auf Sensitivity Reading spezialisiert. Sie hilft Autorinnen und Autoren dabei, Diversität in Romanen umzusetzen. Das gelingt nämlich noch nicht so ganz.
Die Absichten seien häufig gut: "Viele Autor*innen wollen empowered schreiben und Diversität in ihren Romanen abbilden", sagt Victoria Linnea. Sie hat zusammen mit Elif Kavader 2018 eine Webseite für Sensitivity Reading ins Leben gerufen. Dort können sich Autor*innen, Verlage und Sensitivity Reader vernetzen.
Reproduktion von Klischees
Das Ziel sei es, eine authentische Repräsentation von marginalisierten Gruppen in fiktionalen Geschichten zu erreichen. Noch scheitern Autor*innen immer wieder an diesem Ziel. "Wenn man keine Berührungspunkte mit einer bestimmten Realität hatte, dann fehlen einem die Details, um eine Situation glaubwürdig zu schildern", sagt Linnea.
"In Geschichten erleben nur weiße Kinder Abenteuer."
Diese mangelnde Kenntnis führe häufig dazu, dass immer wieder dieselben falschen Klischees reproduziert würden, sagt Linnea. Asiatischen Figuren würden gerne mandelförmige Augen attestiert, dicke Menschen seien immer unsportlich, Frauen generell schwächer und der beste Freund des Hauptcharakters sei entweder eine schwule oder eine schwarze Person. "Es gibt Erzählungen, in denen andere Figuren nur dazu da sind, weiße oder dominante Figuren zu unterstützen", sagt Linnea.
"Marginalisierte Personen müssen Hauptfiguren sein. Und nicht nur einmal als Pappfiguren durchs Bild rennen."
Diskriminierung und Sexismus in alltäglichen Äußerungen
Wenn Linnea als freie Lektorin mit Autorinnen und Autoren zusammenarbeitet, stößt sie immer wieder auf solche Mikroaggressionen, die häufig Diskriminierung oder Sexismus transportieren. "Mikroaggressionen sind alltägliche Äußerungen, die andere Menschen ausgrenzen", sagt die Lektorin. Dazu gehören etwa so Sätze wie "Du sprichst aber gut deutsch". Gesagt wird dieser Satz häufig zu einer Person, die nicht als deutsch gelesen wird. Oder auch das Wort "Powerfrau" suggeriere, dass Frauen generell weniger (Durchsetzungs-)Kraft hätten.
"Wenn ich an früher denke, dann gibt es da eine kleine Traurigkeit in mir. Ich hatte das Gefühl: Bücher sind nicht für mich."
Victoria Linnea hat Deutsch als Fremdsprache unterrichtet und war als Übersetzerin tätig, bevor sie sich 2016 als freiberufliche Lektorin selbstständig gemacht hat. Schon vorher war ihr immer wieder aufgefallen, dass gerade deutschsprachige Bücher eurozentrisch und die Geschichten von Männern dominiert waren.
In vielen Romanen wird das Anderssein von Personen beschrieben
Ein anderes Problem, das in solchen Romanen immer wieder auftaucht, sei Othering. "Das bedeutet: Man geht vor allem auf das Anderssein bestimmter Personen ein", sagt Linnea. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass viele Charaktere in einem Buch mit Augen- und Haarfarbe beschrieben werden. Bei einer Figur wird aber explizit die Hautfarbe erwähnt oder eben auf die Augenform eingegangen. "Ich kann die mandelförmigen Augen für asiatisch gelesene Personen nicht mehr ertragen" sagt Linnea.
Dabei wäre es einfach, dieses Othering zu vermeiden. "Alle Personen sollten mit den gleichen Merkmalen beschrieben werden." Das gelänge zum Beispiel in der "Percy Jackson"-Reihe von Rick Riordan oder in den Büchern von Judith und Christian Vogt. Momentan lese sie außerdem von Ibi Zoboi "Pride. A Pride and Prejudice Remix".
Für Autor*innen gibt es neben der Zusammenarbeit mit Lektor*innen auch andere Hilfen, um sich selbst zu überprüfen. Um zum Beispiel eine stereotypische Erzählweise in Bezug auf Frauen in fiktionalen Geschichten zu vermeiden, hat die nordamerikanische Cartoon-Zeichnerin und Autorin Alison Bechdel 1985 einen Test entworfen. Dieser Bechdel-Test besteht aus drei einfachen Fragen:
- Gibt es mindestens zwei Frauenrollen?
- Sprechen sie miteinander?
- Unterhalten Sie sich über etwas anderes als einen Mann?
Lautet die Antwort drei Mal "ja" hat die Geschichte den Test bestanden. Diesen Test hat Viktoria Linnea in Bezug auf Diversität umgearbeitet. Zusammen mit Autorinnen und Autoren erarbeitet sie Wege, um Diskriminierung und Othering zu vermeiden. "Für viele ist es eine gute Erfahrung. Die meisten Autor*innen, die Sensitivity Reading machen, haben ja schon ein Bewusstsein."
Im Deep Talk spricht Victoria Linnea mit Sven Preger über Sensitivity Reading, über authentische Repräsentation in Romanen und über ihre Liebe zu Büchern.
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