Albert Einsteins Relativitätstheorie revolutionierte nicht nur das physikalische Weltbild. In den Unsicherheiten und Umwälzungen der 1920er Jahre diente sie zum Ausdruck eines Lebensgefühls und wurde zur Zeitdiagnose. Ein Vortrag von Jutta Müller-Tamm.
Manche großen Entdeckungen oder revolutionären Erfindungen brauchen lange, bis sie von vielen Menschen anerkannt und bewundert werden. Für Albert Einsteins Entdeckung der Relativitätstheorie gilt das nicht. Schon kurze Zeit nach ihrer Veröffentlichung wurde sie zum Gesprächsstoff nicht nur unter Physikern, sondern in fast allen gesellschaftlichen Kreisen.
"Der Hauptgrund für die besondere Wahrnehmung der Relativitätstheorie war, dass sie im Positiven wie im Negativen als Zeitdiagnose aufgefasst wurde."
Albert Einsteins Theorie wurde in Zeitschriften, Karikaturen und Gesprächen erörtert. Und das, obwohl kaum jemand sie wirklich verstand. In ihrem Vortrag erzählt die Literaturwissenschaftlerin Jutta Müller-Tamm, wie Albert Einsteins Relativitätstheorie von der nicht wissenschaftlichen Bevölkerung aufgenommen wurde und was es mit dem sogenannten "Relativitäts-Rummel" der 1920er-Jahre in Berlin auf sich hatte.
Die Relativitätstheorie brachte das Weltbild ins Wanken
Albert Einsteins Theorie diente als Zeitdiagnose, sagt Jutta Müller-Tamm. Sie hatte das physikalische Weltbild revolutioniert. Größen, die vorher als absolut galten, waren nun beobachterabhängig, Zeit war nicht mehr unabhängig vom Raum, alles war in Bewegung. Diese Erschütterung von zuvor als fest betrachteten Größen wurde auf die politischen, sozialen und künstlerischen Umstände der Zeit übertragen.
"Alles ist relativ" – das war der Übertragungsmodus, wie es vom physikalischen Prinzip zu einem ethischen, philosophischen, alltagsphilosophischen Relativismus wurde."
Auch wenn die physikalische Theorie und die Krisen der 1920er-Jahre eigentlich gar nichts miteinander zu tun hatten, so wurde Albert Einsteins Theorie doch auf einen philosophischen, ethischen und künstlerischen Relativismus übertragen. "Alles ist relativ", wurde zu einem neuen Leitmotiv.
"Nach dem Krieg 1919 ging das los, was man bald den Relativitäts-Rummel oder den Relativitätstrubel genannte hat."
Der Vortrag
Jutta Müller-Tamm ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Ihr Vortrag hat den Titel "Albert Einsteins Berliner Jahre". Sie hat ihn am 25. Mai 2023 an der Freien Universität Berlin gehalten im Rahmen der Ringvorlesung "Berlin im Krisenjahr 1923: Parallelwelten in Kunst, Literatur und Wissenschaft" im Rahmen des Programms "Offener Hörsaal".