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Seit über fünf Monaten gehen Studierende in Serbien auf die Straße für einen demokratischen Systemwechsel und ein Ende der Korruption. Den Protesten schließen sich immer mehr Menschen an. Tiana ist seit Beginn dabei – und will so schnell nicht aufhören.

Am 1. November 2024 stürzt am frisch renovierten Bahnhof der Stadt Novi Sad ein Teil des Vordachs ein. 16 Menschen sterben. Es gibt Hinweise auf Pfusch am Bau und eine zu früh erzwungene Eröffnung. In Belgrad halten Studierende eine Mahnwache ab. Dabei werden sie angegriffen. Es stellt sich heraus, dass unter den Angreifern Parteifunktionäre der Regierungspartei sind. Das wird zum Auslöser für anhaltende Proteste gegen Korruption in Serbien.

Bei den Protesten und Blockaden der Fakultäten von Begin an mit dabei ist die Studentin Tiana (Name auf Wunsch geändert). Sie möchte, dass alle für den Einsturz Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

"Ich möchte mich sicher fühlen. Ich möchte in einem Land wohnen, wo ich mich auf die Regierung verlassen kann."
Tiana, Studentin

Seit dem Unglück fühle sich niemand mehr sicher. Es gab viele Bauprojekte in letzten Jahre, die unprofessionell umgesetzt worden sind, sagt Tiana. Die Angst vor weiteren Einstürzen sei groß. Ihr Wunsch: Ein Serbien, in dem man sich sicher fühlen kann, weil die Regierung verlässlich und professionell arbeitet.

Mahnwachen werden zum landesweiten Protest

Organisiert werden die Proteste von Studierenden. Tiana ist in der "Arbeitsgruppe Medien". Die täglichen Treffen sind intensiv und dauern oft sehr lange, denn alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, sagt sie. Kraft und Motivation geben ihr das gemeinsame Engagement und eine spezielle Energie, die sie an der Fakultät spürt, sagt sie.

"Für Alle ist es anstrengend, aber wir sind jeden Tag dort, und das motiviert mich."
Tiana, Studentin

Aus der Mahnwache wurde ein landesweiter Dauerprotest, weil sich schnell eine Euphorie und Dynamik entwickelte: In Städten wie Belgrad, Novi Sad und Niš versammelten sich Hunderttausende. Studierende reisten per Fahrrad, zu Fuß oder sogar im Marathonlauf an – je nachdem, wo die Demos stattfanden.

Im Marathonlauf durch die Dörfer zur Demo

Auf dem Weg zogen sie durch viele Dörfer, wo sie immer mehr Menschen mitrissen, sagt Oliver Soos, Korrespondent für Südosteuropa.

"Sie haben die Studierenden vor der eigenen Nase gesehen, die durch viele Dörfer gekommen sind. Und die Bevölkerung stand begeistert da."
Oliver Soos, Korrespondent für Südosteuropa

Ein Großteil der Bevölkerung konsumiert oft regierungsnahe Medien, doch nun haben sie den Protest der Studierenden direkt vor der eigenen Nase gesehen. Begeistert bejubelten sie die Aktivisten, gaben ihnen Essen und Trinken. So entstand eine landesweite Aufbruchsstimmung: Wir stehen auf, wir kämpfen für Veränderung.

Die Bewegung schwappt auch nach Europa über: Diese Woche waren die Studierenden auf Zwischenstation in Wien, auf ihrem Weg mit dem Fahrrad von Serbien nach Straßburg – zum Gerichtshof für Menschenrechte. Etwa 2000 Serb*innen feierten sie dort in der Innenstadt, berichtet Oliver Soos.

Berichte über Einsatz von Schallwaffen

Im März gab es Berichte über den Einsatz von Schallwaffen gegen Protestierende, doch das ist schwer zu beweisen. Ein Video zeigt, wie die Menge in Panik auseinanderläuft, einige klagten danach über Ohrenschmerzen und Schwindel. Die Regierung gab zunächst an, gar keine Schallwaffen zu besitzen – später hieß es dann, diese seien noch im Lager.

Ein Foto zeigt eine Schallwaffe auf einem Polizeijeep, aber die Regierung behauptet, es handele sich um ein Gerät für Durchsagen. Die Studierenden wollen sich in Straßburg über den mutmaßlichen Einsatz von Schallwaffen beschweren, da dies eine Menschenrechtsverletzung ist.

Serbien – Regierungsrücktritt, aber keine Neuwahlen

Im Januar trat Serbiens Ministerpräsident Milos Vučević im Zusammenhang mit den Protesten zurück. Stattdessen ernannte Präsident Aleksandar Vučić den Medizinprofessor Djuro Macut als neuen Premier. Vučić regiert das Land weiterhin und setzte, um die Gemüter zu besänftigen, den Wechsel vor allem als politischen Cut nach einem Skandal durch: In der Stadt Novi Sad hatte ein Schlägertrupp aus Mitgliedern der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) mit Baseballschlägern mehrere Studenten verletzt.

Trotz des Rücktritts wurde keine Neuwahl angesetzt. Macut, ein politisch unerfahrener Medizinprofessor, ist bekannt für seine ablehnende Haltung gegenüber den Studentenprotesten. Es wird erwartet, dass er als Marionette Vučićs agiert und mehr oder weniger alles tut, was der Präsident von ihm verlangt, so Oliver Soos.

"Die Studierenden sagen offiziell, ihnen geht es überhaupt nicht um Namen. Sie wollen eine funktionierende Demokratie."
Oliver Soos, Korrespondent für Südosteuropa

Die Studierenden betonen, dass es ihnen nicht um einzelne Politiker geht, sondern um eine funktionierende Demokratie. Sie fordern, dass alles nach Recht und Gesetz geschieht und kritisieren, dass Vučić als Präsident, der eigentlich repräsentative Funktionen haben sollte, die gesamte Macht an sich gerissen hat. Ihr Fokus liegt auf der Einhaltung von Gesetzen – in der Hoffnung, dass sich dann geeignete Politiker finden werden.

Im Netz gibt es viel Kritik an der Ernennung von Djuro Macut. Viele werfen ihm vor, die Studentenbewegung verraten zu haben, und bezeichnen ihn als "Speichellecker" der Regierung, der für seine Unterstützung einen Top-Posten in der Politik erhält.

Politische Opposition zersplittert

Die politische Opposition in Serbien ist stark zersplittert, mit vielen kleinen Parteien, die wenig Einfluss haben. Vučić hat es geschafft, die Opposition zu schwächen, sodass sie in den großen Medien kaum präsent ist. Auch die Studierenden unterstützen keinen einzelnen Politiker. Sie fordern vor allem eine Reform des Systems, ohne sich auf eine bestimmte Person festzulegen. Das bestätigt auch Tiana.

"Vučić hat erfolgreich dafür gesorgt, dass die Opposition unbedeutend und zersplittert ist."
Oliver Soos, Korrespondent für Südosteuropa

Der Ansatz hat den Vorteil, dass die politische Bewegung weniger angreifbar ist und nicht von der Regierungspropaganda zerstört werden kann, sagt Oliver Soos. Das Problem bleibt jedoch: Irgendwann muss die Macht von einer Gruppe oder Person ergriffen werden. Und es ist völlig unklar, wer diese Rolle übernehmen könnte. Die Opposition bleibt zersplittert, und es ist noch nicht abzusehen, wer Vučić herausfordern kann.

Sturz von Vučić fraglich

Tiana sagt, ihr Leben sei gerade "in hold" und ganz dem Protest gewidmet. Ob der wirklich etwas bringen kann? Fakt ist: Die Proteste im Land sind historisch, mit einer riesigen Unterstützung von drei Vierteln der Bevölkerung. Es gibt eine Welle von Großdemos, die so noch nie zuvor stattgefunden hat. Manche Experten glauben, Vučić wird es bis Herbst nicht schaffen.

Allerdings hat der Politiker in den letzten dreizehn Jahren ein festes Machtgebilde aufgebaut, das alle Institutionen, Medien und die Justiz umfasst. Es ist schwer vorstellbar, wie eine so mächtige Person stürzen könnte. Es bleibt also ein offener Wettkampf, so unser Korrespondent: Wer wird am Ende länger durchhalten?

Ihr habt Anregungen, Wünsche, Themenideen? Dann schreibt uns an Info@deutschlandfunknova.de

Shownotes
Korruption
Serbien: Studierende kämpfen für Veränderung
vom 09. April 2025
Moderation: 
Ilka Knigge
Gesprächspartnerin: 
Tiana, geht in Serbien auf die Straße
Gesprächspartner: 
Oliver Soos, ARD-Studio Wien