Egal, wo wir hingucken: überall Krise. Unser Hirn packt das nicht. Sarah arbeitet für eine Hilfsorganisation und erzählt, wie sie damit umgeht. Neurowissenschaftlerin Maren Urner hat Tricks, wie wir uns davor schützen, an der Lage der Welt zu verzweifeln.
Sarah Easter arbeitet für die Hilfsorganisation Care. In ihrem Beruf ist sie andauernd mit Krieg und Hunger konfrontiert. Deshalb hat sie Strategien entwickelt, damit umzugehen. Und das lässt sich auch auf andere Krisen übertragen – auch wenn sie uns nur abstrakt betreffen wie das Aus der Ampel-Koalition.
Sarah versucht, das Positive wahrzunehmen: Sie erzählt von einem Dorf im ostafrikanischen Mosambik, wo alle Bewohner*innen vor Gewalt fliehen mussten. Ein Jahr lang hatten sie aufgehört zu singen und tanzen. Mit dem Projektstart haben die Menschen jedoch wieder angefangen zu singen. "Das ist etwas, woran ich mich dann festhalte: Dass es immer irgendetwas Positives gibt in all diesen Krisen. Und das hilft mir auch im Alltag."
Frust rauslassen, fluchen, mit anderen sprechen
Sarah ist bewusst, dass sie sich in ihrer Arbeit in einer privilegierten Position befindet: "Aber ich glaube, es ist falsch zu sagen, dass ich deswegen nicht so leben darf." Wenn sie Hunger erlebt, wäre es die falsche Herangehensweise, selbst zu hungern. "Es hilft nicht, nicht mehr in einen Supermarkt zu gehen, weil in einem Land Menschen hungern", sagt sie.
Für sie als Helferin gibt es zudem die Möglichkeit, selbst Hilfe zu erhalten: Nach jedem Einsatz kann sie psychologische Hilfe bekommen. Sarah hilft das sogenannte Debriefing, also eine Nachbesprechung, erzählt sie: "Da kann ich mich auch einfach mal auskotzen, da fluche ich auch mal laut. Das hilft mir, den Frust rauszulassen." Es hilft ihr, mit Menschen zu sprechen, die wissen, mit welchen Situationen sie konfrontiert ist.
Immer aufs Positive konzentrieren
Und was lässt sich von Sarahs Strategien für unseren Alltag abschauen? "Man sollte sich immer auf das Positive konzentrieren", sagt sie. "Manchmal ist das sehr schwer. Aber dann konzentriere ich mich trotzdem auf den kleinsten Nenner."
Kürzlich war Sarah im Tschad, wo sie mit Menschen gesprochen hat, die aus dem Sudan geflohen sind. "Da gibt es nicht viel Positives. Aber in dem Moment ist das Positive: Die Menschen sind noch am Leben. Das heißt, man kann etwas machen, man kann noch Hilfe leisten."
"Es ist wichtig, den Nachrichtenkonsum so zu limitieren, dass man es ertragen kann."
Wichtig sei aber auch, den Frust rauszulassen und darüber zu sprechen, auch wenn es Energie kostet. Sarah ist es auch wichtig, in Krisen zu überlegen, wie viele schlechte Nachrichten man überhaupt liest, hört oder schaut.
"Man muss sein Limit kennen. Es ist wichtig, den Nachrichtenkonsum so zu limitieren, dass man es ertragen kann. Aber auch nicht wegschauen. Denn die Menschen, die in solchen Krisen leben, sind darauf angewiesen, dass man sie hört", sagt sie. Wenn Menschen Sarah sagen, dass sie sich auch durch ihre Arbeit gehört fühlen, gibt ihr das die Kraft und Energie, die sie braucht, um weiterzumachen.
Nachrichtenflut kann gefährlich sein
Was Sarah beschreibt, nennt man in der Psychologie Selbstwirksamkeit: "Das ist die Gegenspielerin der Hilflosigkeit – und die spüren viele Menschen, wenn sie im Strudel der negativen Nachrichten sind", erklärt Maren Urner. Sie ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Nachhaltige Transformation an der FH Münster.
Sie ist kein News-Junkie mit dauernd reinkommenden Eilmeldungen. "Das ist ein Missverständnis: Je mehr Eilmeldungen, desto besser ist man informiert. Aber so funktioniert unser Gehirn einfach nicht", sagt Maren Urner. Wir brauchen Phasen, wo wir uns ganz aktiv nicht mit neuem Input beschäftigen, sondern dem Hirn Zeit geben, um das, was schon aufgenommen wurde, zu verarbeiten, erklärt sie.
IQ sinkt kurzfristig bei schlechten Nachrichten
Doch was passiert mit unserem Gehirn, wenn so viele schlechte Nachrichten auf uns einprasseln? "Der IQ sinkt kurzfristig signifikant", erklärt Maren Urner, "weil Angst uns in einen kurzfristigen Überlebensmodus versetzt." Dann kennt das Gehirn drei Antworten: Fight, flight or freeze, also kämpfen, flüchten oder erstarren.
Die Gehirnbereiche, die für längerfristiges Planen oder gut überlegte Entscheidungen verantwortlich sind, sind nicht mehr zugänglich. "Wir sind dann zurückgeworfen auf unsere evolutionsbiologisch ältesten Teile des Gehirns", erläutert die Neurowissenschaftlerin.
"Krisenzeiten sind die Zeiten, in denen Diktatoren an die Macht kommen."
Und dann treffen wir laut Maren Urner auch schlechtere Entscheidungen – und sind anfälliger für einfache Antworten. "Weil der Körper im Ausnahmezustand nicht in der Lage ist abzuwägen, Grautöne zu sehen und sich mit neuen oder anderen Perspektiven auseinanderzusetzen." Das sei eine große Herausforderung in Krisenzeiten. Denn: "Das sind die Zeiten, in denen Diktatoren an die Macht kommen."
Doch es geht nicht nur um schlechte Nachrichten an sich, sondern auch um die Verfügbarkeit. Nachrichten kommen nicht mehr nur morgens mit der Zeitung oder abends in der Tagesschau, sondern den ganzen Tag im Liveticker. "Das sorgt für Stress. Und Stress auf biologischer Ebene bedeutet, dass die Anforderungen höher sind als die Ressourcen", sagt Maren Urner.
Strategien gegen Hyperanspannung
Dieser Stress sorgt zu einer Hyperanspannung. "Die ist kurzfristig gut, weil uns das mehr Aufmerksamkeit liefert. Aber wenn sie dauerhaft anhält, hat sie negative Folgen für unseren Körper", sagt sie: Zum Beispiel kann das unser Immunsystem gefährden oder dafür sorgen, dass wir weniger schlafen.
Doch es gibt Strategien, damit umzugehen. Der erste Schritt ist laut Maren Urner immer, sich dessen bewusst zu sein, dass man etwas ändern möchte. Dann hilft eine Protokollfunktion. Denn wir sind sehr schlecht darin, richtig einzuschätzen, wie oft wir unser Smartphone eigentlich benutzen. Viele Handys zeigen mittlerweile an, wie viel Zeit wir mit welcher App verbringen.
Bewusste Zeitfenster für Nachrichten
"Dann kommt der wichtige und anstrengende Schritt", sagt Maren Urner: die Gewohnheit zu ändern, dass Nachrichten checken eine Belohnung auslöst. Um das zu verändern, muss man ein neues Verhalten in diese Gewohnheitsschleife einsetzen.
Das geht zum Beispiel, indem man bestimmte Apps oder das ganze Smartphone ab einer bestimmten Uhrzeit auf stumm zu stellen. Oder bestimmte Zeitfenster für bewussten Nachrichtenkonsum einplanen. "Solche Strukturen geben unserem Gehirn Entspannung", sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner. "Wie diese Strukturen aussehen, ist eine individuelle Entdeckungsreise."
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