"Stell dir mal ... vor" – kennen wir alle. Aber nicht jede kann sich wirklich etwas vor dem inneren Auge vorstellen. Aphantasie heißt das Phänomen, wenn keine Bilder im Kopf entstehen.
Als die 25-jährige Leni vor einigen Jahren "Herr der Ringe" laß, war sie ziemlich verwirrt: "Wie kann jemand dieses Buch lesen? Das ist doch total langweilig!" Die endlosen Seiten über Naturbeschreibungen überblätterte sie einfach, denn sie konnte sich nichts davon vorstellen. Leni hat Aphantasie. Sie kann sich also keine Bilder, Gefühle, Geräusche oder Geschmäcker vorstellen.
Oft spät erkannt
Viele Menschen erkennen relativ spät, also erst im Alter von 20 oder 30 Jahren, dass sie von Aphantasie betroffen sind. Leni hatte in der Abi-Zeit bemerkt, dass irgendwas nicht stimmt, als Freunde in einem Gespräch sagten, sie solle sich das mal bildlich vorstellen. Da es ihr unangenehm war, sagte sie nicht, dass sie das nicht kann.
"Ich habe sie unterbrochen und meinte so: Wie 'bildlich vorstellen'? Und die haben mich alle so angeguckt und meinten: 'Ja, mit nem Bild im Kopf.' Dann hab ich nichts mehr gesagt, weil mir das total unangenehm war."
Dass sie Aphantasistin ist, wusste sie damals aber immer noch nicht, denn den Begriff gibt es in der Forschung erst seit 2015.
Aphantasie ist keine Krankheit
Nach einem Leiden fühlt sich die Aphantasie für Leni und andere Betroffene aber nicht an. Sie habe nicht das Gefühl, dass bei ihr etwas komplett anders als bei anderen Menschen laufe. Deshalb soll Aphantasie auch nicht als Krankheit bezeichnet werden, sagt Merlin Monzel, selbst Betroffener und Psychologe an der Universität Bonn.
"Es ist sehr wichtig zu sagen, dass es keine Krankheit ist. Einfach, weil wir keinen besonders hohen Leidensdruck bei Betroffenen feststellen. Und das ist eben definierend für eine psychische Krankheit."
Neurobiologische Ursachen
Merlin Monzel, der seine Doktorarbeit zu diesem Thema verfasst, erklärt, dass Aphantasie laut der Forschung eine vererbare, neurobiologische Ursache haben könnte. Das Gehirn von Aphantasisten verarbeite Informationen einfach anders und nutze andere Gehirn-Regionen.
"Das Gehirn der Betroffenen verarbeitet Informationen einfach anders als das Gehirn von Nicht-Betrofffenen. Das erkennen wir zum Beispiel bei Gehirn-Scans, wenn wir Vorstellungsaufgaben durchführen, dass da andere Gehirn-Regionen aktiviert sind."
Bis zu drei Prozent der Menschen könnten von Aphantasie betroffen sein. Es sei aber schwer, das wirklich festzustellen, weil viele Betroffene gar nicht wüssten, dass sie Aphantasie hätten, weil sie es nicht anders kennen würden.
Objektive Tests fehlen noch
Deshalb arbeitet Merlin auch an einem Test, mit dem man objektiv herausfinden könne, ob eine Person betroffen ist oder nicht. Ein Beispiel: Sagt man einer Person, sie soll sich einen rosaroten Elefanten vorstellen und diesen Elefanten danach auf einem Wimmelbild suchen, kann sie ihn schneller finden, wenn sie ihn davor schon vor dem inneren Auge visualisiert hat. Das Gehirn sei dann bereits darauf eingestellt, erklärt Merlin Monzel.
Aphantasie hat ihre Vorteile
Für Samira, eine weitere Betroffene, hat die Aphantasie nicht nur Nachteile. Wo sich andere beispielsweise beim Meditieren oder Einschlafen sehr schwer tun, hat sie keine Probleme: Wenn sie ihre Gedanken nicht auf etwas Spezielles konzentriere, dann denke sie einfach an nichts, dann ist es ruhig in ihrem Kopf.
"Also wenn ich meine Gedanken nicht auf irgendwas konzentriere, dann denke ich wirklich an nichts. Und dann denke ich nicht an einen leeren Raum oder versuche, an nichts zu denken, sondern es ist wirklich einfach ruhig in meinem Kopf."
Samira führt außerdem eine offene Beziehung. Auch hier sieht sie ihre Aphantasie als Vorteil, denn die visuelle Vorstellung, den Partner oder die Partnerin mit jemand anderem zu sehen, die habe sie nicht. Sie stelle es sich nur ganz simpel und logisch vor. Deshalb wisse sie ihre Aphantasie in manchen Momenten auch zu schätzen.
"Ich glaube, ich kann das gut zu schätzen wissen oder finde das im Gesamten gar nicht so tragisch, dass ich das habe."
Wer testen will, ob er von Aphantasie betroffen ist, kann bereits jetzt schon im Internet einen Fragebogen ausfüllen. Der sei laut Merlin Monzel zwar nicht zu 100 Prozent aussagekräftig, aber zumindest ein Anhaltspunkt.