In Indien steigen die gemeldeten Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus schnell an. Das Land zählt fast 700.000 Ansteckungen und liegt damit auf Platz drei der weltweit am stärksten betroffenen Länder – nach den USA und Brasilien. Die indische Regierung hatte versucht, den Ausbruch der Pandemie mit einem strikten Lockdown einzudämmen. Doch diese Zeit wurde kaum genutzt, um das Gesundheitssystem für die Coronakrise besser zu rüsten, so Silke Diettrich, ARD-Korrespondentin für Indien.
Allein am Sonntag (5. Juli) sind in Indien fast 25.000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus dazugekommen. Man muss das in Relation sehen: Immerhin zählt das Land eine Milliarde Menschen. Dennoch: Die Zahlen steigen explosionsartig, so Silke Diettrich ARD-Korrespondentin für Indien.
Dabei hatte Indiens Regierung schon im März einen nationalen Lockdown verfügt und diesen immer wieder verlängert. Die Ausgangssperren kamen zu einem frühen Moment: "Da waren 'nur' 500 Fälle bekannt", sagt Silke Diettrich.
Hohe Infektionszahlen trotz Lockdown
Doch der Lockdown führte auch dazu, dass Indiens Wirtschaft nun am Boden liegt. Millionen von Wanderarbeiterinnen und -arbeitern verloren ihre Jobs in den Metropolen. Viele marschierten mit ihren Familien zu Fuß teils hunderte von Kilometern zurück ihre Heimatdörfer, auch, wenn es dort ebenfalls keine Arbeit gibt. Es gab erschütternde Szenen von Menschen am Straßenrand, ohne Essen und Trinken.
In den Metropolen sah es nicht viel besser aus. Auch die Menschen, die dort leben, verloren ihre Jobs: Der Großteil der Inderinnen und Inder arbeitet informell, das heißt ohne Vertrag. Viele sind Tagelöhner. Es gibt auch keine sozialen Sicherungssysteme, um die Menschen aufzufangen.
Indiens Regierung musste sich entscheiden, wie lange sie den Lockdown noch aufrechterhalten konnte. Auf der einen Seite drohte Hunger, auf der anderen Seite weiter steigende Infektionszahlen. Silke Dittrich sagt: "Wir waren mitten oben auf dem Peak, und dann kamen auf einmal die ganzen Lockerungen".
"In Indien wurde geöffnet, als die Kurve schon ganz weit oben war. Seitdem gehen die Infektionszahlen explosionsmäßig nach oben."
Der rapide Anstieg der Infektionszahlen habe sich lediglich verschoben, so ihre Einschätzung. Andere Länder hätten die Zeit eines Lockdowns besser genutzt, um sich für die Pandemie zu rüsten, so Silke Diettrich. In Indien habe man diese Zeit nicht wirklich genutzt. "Es war eher ein totaler Lockdown. Totenstille überall auf den Straßen." Erst jetzt würden die Behörden anfangen, zum Beispiel Zentren für Covid-19-Patienten und -Patientinnen aufzubauen.
Der Wirtschaft haben die Lockerungen bisher nicht viel gebracht, so die Beobachtung von Silke Dittrich, denn angesichts der steigenden Infektionszahlen im Land, haben die Menschen Angst und sind bei Investitionen zögerlich.
"Viele Leute hier haben noch extrem Angst. Der Konsum kommt überhaupt nicht in Schwung."
Immerhin: Indiens Regierung lässt inzwischen massiv testen. Werden in einzelnen Stadtteilen, wie zum Beispiel in der Hauptstadt Delhi, viele Menschen positiv getestet, wird dieser "Hotspot" abgesperrt. "Das bedeutet für die Menschen dann zwei Wochen komplette Quarantäne", sagt Silke Diettrich. Solche lokalen Lockdowns sollen die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen.
Eine weitere Maßnahme: In den Städten entstehen nun Quarantäne-Zentren, um zum Beispiel Infizierte, deren Familien nicht positiv getestet sind, aufzunehmen. In Delhi beispielsweise wurde solch ein Zentrum mit 10.000 Betten eröffnet.
Politisches Wunschdenken: Impfstoff bis 15. August
Insgesamt läuft es nicht gut für Indiens Regierung: Positive Nachrichten sind da willkommen. Delhi drängt darauf, dass bis Mitte August ein Impfstoff gegen Corona eingesetzt werden kann. Um genau zu sein, bis zum 15. August. Da ist der Unabhängigkeitstag des Landes und ein wichtiger Feiertag für Inderinnen und Inder.
Aber woher soll der Impfstoff so schnell kommen? Indien arbeitet zwar auch an einem Impfstoff gegen das Coronavirus, aber die Testphasen sind längst nicht abgeschlossen. Deshalb gibt es auch Kritik an der Ankündigung der Regierung; beispielsweise vom Indian Council of Medical Research, der die biomedizinische Forschung in Indien koordiniert. Es sei nicht möglich, so schnell einen Impfstoff auf den Markt zu bringen, so seine Einschätzung.