Die Impfverordnung gibt vor, wer zuerst gegen das Coronavirus geimpft werden darf. Die Kritik gegen die Priorisierung der Risikogruppen ist groß. Individuelle Fälle würden dabei durchs Raster fallen – etwa die junger Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen.
Benni und Rebecca leben seit Ausbruch der Coronavirus-Pandemie in Selbst-Quarantäne – also seit über neun Monaten. Denn: Sie sind Risikopatienten. Eine Infektion mit dem Coronavirus würde für sie schwere Folgen haben.
Benni hat Muskelschwund und muss deshalb zusätzlich beatmet werden. Er lebt zusammen mit seiner Familie zu Hause. Rebecca hat Glasknochen, ist Rollstuhlfahrerin und hat eine stark verkrümmte Wirbelsäule, die wenig Platz für ihre Lunge lässt. Sie braucht deshalb nachts Unterstützung beim Atmen.
Über neun Monate in Quarantäne
Rausgehen, Freunde treffen und in ihrem gewohnten Alltag unterwegs sein, ist für beide seit Beginn der Pandemie nicht mehr möglich. In einem Video erzählt Benni darüber, wie eingesperrt er sich momentan fühlt. Das sei wie in einem Gefängnis, sagt er.
Ähnlich frustriert ist auch Rebecca, wenn sie sich vorstellt, dass sich möglicherweise auch in den nächsten Monaten nichts an ihrer Selbst-Quarantäne verändern wird. Ihre Situation sei noch vergleichsweise gut, weil sie zum Beispiel von zu Hause aus arbeiten kann.
Benni und Rebecca gehören nicht zu den Risikogruppen, die in der Impfverordnung priorisiert werden.
"Es gibt Leute, die haben Assistenz und Pflegekräfte, aber leben zu Hause. Oder Leute wie ich, die ein völlig selbstständiges Leben führen, aber durch eine Corona-Infektion hoch gefährdet wären. Ich frage mich, wo ist denn die Flexibilität in dem Impfplan?"
Zur Prioritätsgruppe eins zählen Menschen über 80 und welche, die in Pflege- oder Altenheimen wohnen oder arbeiten und solche, die im Beruf mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Virus ausgesetzt sind - in Intensivstation oder
Notaufnahme zum Beispiel.
Zu Gruppe zwei gehören Untergruppen, in die Menschen mit Trisomie 21, Demenzkranke und Menschen nach einer Organtransplantation eingeteilt werden.
Ein Fall wie Benni, der zu Hause lebt, dort beatmet und betreut wird, statt in einem Wohnheim, taucht in keiner der Gruppen auf. Betroffenenverbände wie Abilitywatch kritisieren, dass Menschen, die in einer Situation wie Benni leben, in der Impfverordnung nicht berücksichtigt werden.
Pauschal statt individuell
Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) haben in erster Linie das Ziel, möglichst viele Personen vor einer schweren Covid-19-Erkrankung zu schützen, um schwere Verläufe und Todesfälle zu reduzieren und die Pandemie einzudämmen. "Deshalb sind sie nicht von individuellen Fällen ausgegangen, sondern haben alles ausgewertet, was zum Virus und zur Krankheit zu kriegen war", erklärt Wissenschaftsjournalistin Kathrin Baumhöfer.
Alter als Richtwert bei Risikogruppen
Die Datenauswertung hat ergeben, dass Menschen über 80 ein hohes Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken oder gar zu sterben. Ihr Risiko ist höher als das junger Menschen mit einer Vorerkrankungen der Lunge wie Asthma oder Chronisch obstruktive Lungenerkrankung.
Pandemie erfordere andere Priorisierung
Der Deutsche Ethikrat war neben der Stiko und der Wissenschaftsakademie Leopoldina auch an den Empfehlungen über die Impfreihenfolge beteiligt. Zusammen mit den beiden anderen Gremien argumentiert der Ethikrat mit dem Faktor Zeit: Zu entscheiden, wer zuerst Anspruch auf eine Impfung habe, sei eigentlich von Fall zu Fall abzuwägen. Weil es sich aber um eine Pandemie handelt, drängt die Zeit. Der Ethikrat halte bei Priorisierungsentscheidungen daher eine Pauschalisierung auf ganze Personengruppen für notwendig.
Um eher geimpft zu werden, gibt es im Fall von Benni ein mögliches Schlupfloch: Erklärt das Bundesland, in dem er lebt, seine Intensivpflege zu Hause als stationär, hätte er doch einen Anspruch auf eine priorisierte Impfung.