Seit fast fünf Monaten gehen in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong regelmäßig Zehntausende Menschen auf die Straße. Sie fordern mehr Demokratie. Chinas Führung wird die nicht gewähren, und so wird es wohl weiter Proteste geben.
Die Proteste der letzten Wochen gehen zurück auf die Regenschirm-Bewegung im Jahr 2014, sagt Stephan Ortmann. Er ist Politikwissenschaftler an der City University Hongkong und lebt dort seit neun Jahren. Die Regenschirm-Bewegung von damals sei bis auf kleine Zwischenfälle weitestgehend friedlich gewesen. Hinsichtlich ihrer Forderungen nach mehr Demokratie und Wahlen sei sie aber nicht besonders erfolgreich gewesen. Bei einer Abstimmung 2015 wurden diese Forderungen abgelehnt.
"Der Frust aus der Regenschirm-Bewegung von 2014 hat sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt."
Die Proteste 2019 hätten auch erst friedlich begonnen, sagt Stephan Ortmann. Allerdings hätten sie eine neue Eskalationsstufe erreicht, als Demonstranten gewaltsam in das Gebäude des Legislativrats eingedrungen seien und auf eine Wand geschrieben hätten: "Ihr habt uns gezeigt, dass friedlicher Protest nicht funktioniert, und deswegen müssen wir jetzt Gewalt anwenden."
Gewaltsame Proteste hatten Erfolg
Mit ihren massiven Protesten haben die Demonstranten erreicht, dass die Regierungschefin in der Sonderverwaltungszone Hongkong, Carrie Lam, das umstrittene Auslieferungsgesetz Anfang September zurückgezogen hat.
"Erst nach sehr viel Gewalt hat die Regierungschefin das Auslieferungsgesetz zurückgezogen und nicht viel früher schon, obwohl die Mehrheit der Hongkonger – erst über eine, dann zwei Millionen Menschen – friedlich auf der Straße dagegen demonstriert hatten."
Dass die Forderungen der Demonstranten nach mehr Demokratie erfüllt werden, sieht der Politikwissenschaftler eher als unwahrscheinlich an. China sei auf immer mehr Kontrolle aus. Den Demonstranten bleibe die Hoffnung, dass es irgendwann zu großen Veränderungen in China komme. Dadurch könne sich dann auch etwas in Hongkong verändern.
Demonstranten organisieren sich im Netz
Die gewaltbereiten Demonstranten gehören nicht einer bestimmten Gruppe an, sagt Stephan Ortmann. Vor allem jüngere Demonstranten würden sich übers Netz mobilisieren. Insgesamt betrachtet würden diese gewaltbereiten Demonstranten aber eher einen kleinen Anteil unter der Protestbewegung ausmachen, auch wenn die Medien durch die Berichterstattung über die gewalttätigen Auseinandersetzung ein anderes Bild erzeugen würden.
"Ich würde sagen, es ist eine Art Wikipedia-Protest: Alle Leute nehmen teil, bearbeiten zusammen das Protest-Dokument und jeder kann die Rollen einnehmen, die er möchte."
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen seien regional stark begrenzt. Die Schläger, die gegen die Demonstranten vorgingen, seien angeheuerte Kriminelle oder Triaden, sagt der Politikwissenschaftler. Dabei handele es sich um die Hongkonger Mafia. "Gegen Geld gehen die gegen alles mögliche vor", sagt Stephan Ortmann.
Vertrauen in die Polizei verloren
Besonders der Vorfall, bei dem eine Schlägertruppe einen Zug gestürmt und auf alle Menschen eingeschlagen habe, die irgendwie schwarz gekleidet waren, weil das die Farbe der Demonstranten ist, habe bei der Bevölkerung zu einem Vertrauensverlust in die Polizei geführt. Denn die sei nicht gekommen, um die Menschen vor der Schlägertruppe zu schützen, berichtet Stephan Ortmann.
Viele Menschen vermuten, dass die Regierung die Triaden engagiere. Aber darüber gibt es so wenige Informationen, dass Stephan Ortmann von Vermutungen Abstand nimmt.
Bevölkerung Hongkongs steht hinter den Protesten
Generell sei die Zustimmung in der Bevölkerung für die Proteste sehr hoch, auch wenn die gewalttätigen Aktionen eher abgelehnt würden. Insgesamt gehörten die Demonstranten eher bildungsnahen Schichten an.
Die Menschen in Hongkong demonstrieren grundsätzlich gegen die Beschneidung ihrer Rechte. Stephan Ortmann sagt, dass die Freiheiten indirekt beschnitten würden, beispielsweise, indem Medien von chinesischen Unternehmern aufgekauft wurden. Dadurch habe sich die Presse beziehungsweise die Berichterstattung in der Sonderverwaltungszone stark verändert.
Schleichende Einschränkung von Freiheiten
Die Menschen würden zwar spüren, dass sich etwas verändere, sie würden aber nicht wissen warum. Das lasse sich nicht immer an konkreten Gesetzesänderungen festmachen. Der Wandel finde eher schleichend statt. Beispielsweise würden Menschen entlassen, die eine pro-demokratische Meinung hätten. Oder Dozenten an der Uni, die eher eine pro-demokratische Haltung einnehmen, hätten es schwerer, bestimmte Posten zu bekommen.
Gegenüber den Studierenden habe Stephan Ortmann offen seine Unterstützung für die friedlichen Proteste angesprochen. Dafür habe er von ihnen sogar Applaus geerntet. Einmal hätten Demonstranten auch eine seiner Vorlesungen gestürmt, Slogans skandiert und Studierende zum Protest aufgerufen. Am Ende seien ein paar mitgegangen.
Diskussion über Proteste ermöglichen
Stephan Ortmann will in einer zukünftigen Veranstaltung die Proteste aufgreifen und die Studierenden in einem Rollenspiel die verschiedenen Positionen einnehmen lassen. Ziel sei es, dass die Studierenden am Ende zu einer Konfliktlösung gelangen. "Ich hoffe, dass es ihnen so die Möglichkeit gibt, mehr über das Thema zu sprechen", sagt der Politikwissenschaftler.
"Unsere Universität ist ziemlich autokratisch organisiert, von daher kann es schon sein, dass da auch politisch Druck ausgeübt wird – nur nicht direkt."
Der Politikwissenschaftler glaubt, dass die Proteste anhalten werden, während die Regierung hoffe, dass sich die Lage langsam beruhigt. Das würde die Demonstranten dazu veranlassen, noch mehr zu protestieren.
Konfliktlösung: Unabhängige Untersuchung und Rücktritt Lams
Um den Konflikt zu lösen, glaubt Stephan Ortmann, könne eine unabhängige Untersuchung der Geschehnisse in den vergangenen Wochen helfen – und ein Rücktritt der Regierungschefin Carrie Lam. "Fast niemand traut ihr mehr. Sie ist einfach eine Bürokratin, die macht, was ihr gesagt wird."